„Wie großzügig von dir.“ Eine Stimme wie eine Tafel Bitterschokolade.
„Herbert, es war nicht meine Absicht –“
Auch diesen Satz konnte ich nicht zu Ende sprechen. Herbert zog seine Schultern wieder nach oben und schaute mich an.
„Wir waren einmal Freunde, erinnerst du dich?“
„Natürlich“, sagte ich so herzlich wie ich konnte. „Aber seitdem ist Vieles passiert. Du hast dich –“
„… in einen Opportunisten verwandelt und bist zum Feind übergelaufen. Ist es in etwa das, was du mir vorwirfst?“
Ziemlich exakt, war ich versucht zu sagen, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt.
„Nein, Herbert, so würde ich das nicht nennen. Es ist nur …“
Ich stockte.
Herbert erhob sich langsam, jede Bewegung schien ihn zu schmerzen.
„Könnte es nicht sein“, sagte er leise, „dass du dich einfach von mir abgewandt hast, weil ich deinen hohen moralischen Standards nicht mehr genügt habe? Dass deine unerschütterliche Selbstgefälligkeit ein Urteil über mich gesprochen hat? Verbannung aus meinem edlen Freundeskreis , so lautete die Strafe, nicht wahr?“
„Herbert, bitte –“ Ich stand auf, legte meine Hände auf seine Oberarme, versuchte ihn zurückzuhalten, doch er entzog sich meiner Berührung, drehte sich um und verließ mein Büro.
Wieder allein, noch aufgewühlt von der Auseinandersetzung mit Herbert, setzte ich mich an meinen Computer und recherchierte über die neuesten Errungenschaften am CERN, um mir bei der Unterhaltung mit Jelena keine allzu offensichtlichen Blößen zu geben. Weit kam ich nicht: Bei einem Foto blieb ich hängen. Es zeigte das Cover des Buches Inside CERN , eines Fotobands von Andri Pol.
Ein enges, auf den ersten Blick funktional eingerichtetes Büro. Die meisten Gegenstände sind weiß oder beige: Regale, Tische, Röhren, der Heizkörper. Nur die heruntergelassenen Jalousien leuchten in einem im Verhältnis zur Umgebung fast schon schreienden Hellblau. Drei prall gefüllte Regale: Unmengen Papier, darunter ein futuristischer Drucker. Was die weiteren Objekte betrifft, kann der Laie nur ahnen, worum es sich handelt. Ein silbernes Kästchen in zwei Teilen, dahinter ein Gerät, in dem etwas wie ein Griff mit angeschlossenem Kabel steckt. Arbeitet man hier mit Lötkolben? Auf dem zweiten Regal klebt ein Post-It, leider unlesbar. Geheimnisvolle Glasquadrate, an der Seite eine Reihe Steckdosen. Im dritten das nicht mehr definierbare Chaos, eine aufgerissene Schachtel mit herausgerutschten länglichen Quadern – Mini-Teilchenbeschleuniger oder doch verpackte Nespresso-Kapseln? Noch ein offener Karton, aus dem Kabel kriechen, ineinander verschlungen, ein Hochzeitstanz von weißen und schwarzen Nattern.
Das Zentrum des Bildes jedoch, oder besser: seine rechte Hälfte, zeigt einen Mann. Mit kurzen Hosen und einem Polo-Shirt, das Tausende Waschgänge überstanden haben muss. Aus dem Saum der Shorts ragen dünne, verschrumpelte Knie, abgeschnitten von der unteren Bildkante. Der Schädel des Mannes ist kahl, doch hinter seinen Ohren, einmal um den Kopf herum, verläuft ein buschiger Kranz aus weißem Haar. Und er trägt einen imposanten Vollbart, zerrupft und eisfarben wie die Gesichtshaare des Yeti auf den gefälschten Fotografien.
Soweit zum äußeren Erscheinungsbild.
Doch was mich ergriff, war eine Bewegung, die Andri Pol eingefangen hatte (einer dieser Momente, von denen alle Fotografen träumen). Eine Geste des Mannes, beide Arme weg vom Körper gerichtet, die Handflächen nach oben gewandt, die Daumen abgespreizt. Die wohlbekannte Haltung, die in etwa ausdrückt:
Was soll das?
Kann mir jemand das erklären?
What the fuck – ?
Oder, in deutschen Krimiserien sehr beliebt: Was zum Teufel …?
Der Blick des Mannes, winzige Brillen mit Drahtgestell durchdringend, richtet sich auf einen Gegenstand, der als einer der wenigen auf diesem Tableau klar zu erkennen ist.
Eine Espressomaschine.
Der Mann ist Richard Kellogg, einer der wichtigsten Physiker am CMS-Projekt, das an der Entdeckung des Higgs-Teilchens beteiligt war.
Der hochdekorierte Wissenschaftler, der vor den Tücken seiner Kaffeemaschine kapituliert. Selten hat für mich ein Bild auf so verschmitzte Weise ein Phänomen zum Ausdruck gebracht, das mich mein Leben lang beschäftigt: Der Charme des Scheiterns großer Geister an kleinen Dingen. Da ich selbst keiner war, konnte ich mich diesem Zauber uneingeschränkt hingeben.
Keine halbe Stunde später entdeckte ich jedoch das gesamte Foto der Szene. Pol hatte für den Umschlag die linke Hälfte weggeschnitten, im Buch befand sich das Bild in voller Breite. Und mit einem Mal sah es aus, als betreffe Kelloggs Unmut nicht die Maschine, sondern die Tatsache, dass sich daneben ungewaschene Tassen stapeln. (Das Chaos auf den Regalen stört ihn offensichtlich nicht.) War also meine kleine Geschichte falsch und der Professor ärgert sich nur darüber, dass niemand das Geschirr gespült hat? Wie immer konnte es entscheidend sein, das vollständige Bild zu betrachten. Jedenfalls bestellte ich sofort das Buch.
Gegen Mittag rief Eva an. Ich konnte mich nicht erinnern, ihr meine Handynummer gegeben zu haben. Ihre Stimme klang aufgewühlt.
„Herr Hollaus, wir haben es geschafft! Jelena Karpova hat dem Gespräch zugestimmt.“
„Das kann ich fast nicht glauben.“
Ich freute mich, und ich freute mich nicht. Ambivalenz, wie immer.
„Doch, es ist wahr! Anfangs dachte ich, es gäbe keine Chance. Sie war abweisend, sehr in sich versunken. Ich habe ihr von Ihnen erzählt, aber sie hat nicht reagiert.“
„Kein Wunder.“
„Ich hab alles versucht. Ihr vorgeschwärmt, was für ein toller Wissenschaftsjournalist Sie sind.“
„Das wird sie Ihnen nicht abgenommen haben. Sie ist sehr intelligent.“
Ich hörte ein Lachen. „Sagen wir so: Sie war nicht sehr beeindruckt. Da hab ich es mit der kleinen Lüge probiert, dass Sie einen großen Artikel über das CERN in einer bedeutenden Zeitung planen. Und sehr an den neuesten Entdeckungen interessiert sind.“
„Aha.“
„Sie hat mich mit ihrem müden Blick angeschaut und gesagt: ‚Heutzutage interessiert sich jeder Idiot für das CERN. Und wer es nicht tut, ist erst recht einer.‘“
„Nicht schlecht. Aber Sie haben nicht aufgegeben, vermute ich.“
„Mir ist erst nichts mehr eingefallen. Dann hab ich gedacht, wenn die Notlüge nicht funktioniert, geben wir der Wahrheit eine Chance.“
„Das ist gut. Dann weiß Frau Karpova jetzt, dass ich keine Ahnung habe, worüber ich mit ihr sprechen soll. Und erleichtert bin, wenn sie ablehnt.“
In ernstem Tonfall sagte Eva: „Ich dachte, über diesen Punkt sind wir hinaus.“
„Sie haben recht. Das war nur ein kleiner Panikanfall.“
„Panik wovor? Ihnen kann doch nichts passieren.“
Ich ging in die kleine Redaktionsküche und holte mir ein Dosenbier aus dem Kühlschrank.
„Sind Sie noch da?“, fragte Eva.
„Ja.“
„Womit, glauben Sie, hab ich sie neugierig gemacht?“
„Keine Ahnung.“
„Ach, kommen Sie. Raten Sie doch einfach.“
„Mit meiner aufregenden Biografie? Geboren in Wien, lebt in Wien, stirbt bald in Wien ?“
„Falsch“, sagte Eva übermütig. „Nächster Versuch!“
Wir schwiegen. Ich wollte etwas Leichtfüßiges, Geistreiches sagen, doch mir fiel nichts ein.
„Gut, dann verrate ich es Ihnen.“ Evas Stimme hörte sich an wie die eines Kindes, das einem fantasielosen Erwachsenen die Welt erklären muss.
„Sind Sie bereit?“
„Bin ich.“
„Ich habe Jelena erzählt, dass Sie an einem Buch über Tunguska arbeiten.“
„Haben Sie nicht.“
„Hab ich doch.“ Jetzt saßen wir beide in der Sandkiste.
Eva verließ sie zuerst.
„Diese Frau“, sagte sie ruhig, „die mir nie etwas anderes als ein tieftrauriges Gesicht gezeigt hatte, bekam plötzlich funkelnde Augen.“
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