Wilfried Steiner - Schöne Ungeheuer

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Der Physiker Jan Koller wird am Vorabend eines Kongresses tot aufgefunden. Wenig später wird die Täterin verhaftet: Seine Forscherkollegin Jelena Karpova hat den Mord gestanden. Doch nicht alle sind von Jelenas Schuld überzeugt: Ihre Anwältin Eva Mattusch glaubt, dass Karpova durch ihr Geständnis den wahren Täter schützen will. Gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalisten Georg Hollaus beginnt sie zu ermitteln.
Ihre Nachforschungen führen sie nach Genf und tief hinein in das faszinierende Forschungszentrum CERN. Sie tauchen ein in die Welt besessener Wissenschaftler, die nicht weniger ergründen wollen als die Entstehung des Universums, eine Sphäre voller komplexer physikalischer Theorien, aber auch reich an Eitelkeiten und Eifersucht. Verbirgt sich hier die Lösung des Rätsels um Jelena Karpova? Oder hat die Stadt Genf noch andere Antworten zu bieten? Schließlich wurde hier nicht nur Wissenschafts-, sondern auch Literaturgeschichte geschrieben: Zweihundert Jahre zuvor entstand in der Villa Diodati der Roman «Frankenstein», der von der Hybris der Wissenschaft erzählt und von ihrem Scheitern.
Die Literatur und die Naturwissenschaft, der Journalist und die Juristin: Sie alle treibt die Suche nach der Wahrheit um, nach der einen Erzählung, die alles erklärt. Wilfried Steiner gelingt es, diese konträren Welten zusammenzuführen in einem ebenso inspirierenden wie unterhaltsamen Roman, der den Blick weitet für die Wunder einer verborgenen Welt.

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Wilfried Steiner

SCHÖNE UNGEHEUER

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert vom Land Oberösterreich sowie von Stadt und Land Salzburg.

wwwomvsat ISBN 9783701312924 eISBN 9783701362929 2022 OTTO MÜLLER - фото 1

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1292-4

eISBN 978-3-7013-6292-9

© 2022 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Tĕšín

Covergestaltung: Leopold Fellinger

Covermotiv (Detektor CMS des Large Hadron Collider am CERN):

Wilfried Steiner

Das Firmament klafft entzwei, glühendes Rot sickert durch den Spalt. Ein hohes Pfeifen erfüllt die Luft, für menschliche Ohren kaum zu ertragen. Schlagartig wird es so heiß, dass manche Hirten sich die Kleider vom Leib reißen, weil sie denken, sie würden brennen. Eine von überirdischen Scheinwerfern erhellte Nacht, eine Flut aus lodernder Atmosphäre. Zwischen den versengten Fußsohlen schwappt die Hölle herauf .

Inhalt

ERSTER TEIL: HIMMEL IN FLAMMEN ERSTER TEIL

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ZWEITER TEIL: DIE WELTMASCHINE

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

DRITTER TEIL: DAS GESCHÖPF

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

VIERTER TEIL: WÖLFE IM GOTTESDIENST

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

ERSTER TEIL

EINS

Ich war noch niemals in Sibirien .

Nun kann sich diese Gegend, was ihre Attraktivität betrifft, natürlich nicht mit New York messen, und die meisten Menschen, die das Land noch nie betreten haben, werden es auch nicht besonders vermissen.

Doch in meinem Fall ist das anders.

Jemand, der sich seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, mit einem Ereignis an einem bestimmten Ort beschäftigt, sogar das Ziel (oder den Traum) hat, darüber ein Buch zu verfassen, sollte doch alles daransetzen, diesen Ort aufzusuchen. Noch dazu, wenn es ein Werk werden soll, das wissenschaftlichen Kriterien standhält. Dann müsste doch die Recherche an der Stätte des Geschehenen unverzichtbar sein, nein, mehr als das, der Verfasser müsste einen unstillbaren Drang verspüren, dorthin zu reisen.

Aber nein.

Nicht nur, dass mich schon der Gedanke an die tagelange Anreise zurückschrecken lässt, ganz zu schweigen von der Vorstellung, allein durch die menschenleere Tundra zu streifen – ich habe auch gleich eine schöne Rationalisierung parat: Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet ich dort etwas Neues herausfinden würde, nach all den professionellen Expeditionen der Vergangenheit. Das entbehrt nicht einer gewissen Logik. Doch dann höre ich meine innere Gegenstimme, und sie verkündet, dass mein geplantes Werk automatisch wertlos wäre, wenn ihm nicht bisher unbekannte, am Schauplatz entdeckte Erkenntnisse zugrunde lägen.

Keine Reise, kein Buch. Die Lähmung ist vollkommen. Und dennoch sammle ich weiter Informationen, die Ordner türmen sich in jeder Ecke meines Arbeitszimmers, keine noch so abseitige Nachricht über mein Thema, die nicht fein säuberlich abgeheftet und zusätzlich in einer von Hunderten Word-Dateien gespeichert wäre.

An Zeit mangelt es mir nicht. Ich arbeite beim Beobachter , einer mittelgroßen Wiener Zeitung, die jeden Tag aufs Neue an ihrem Anspruch scheitert, der österreichische Guardian zu werden. Dort hat man mir mit den Jahren eine gewisse Narrenfreiheit zugestanden. Mein Beruf wird mit einem von jenen zusammengesetzten Begriffen bezeichnet, deren erster Teil Erwartungen weckt, die der zweite nicht erfüllen kann. Wissenschaftsjournalist. Großer Auftakt, enttäuschender Abgang. Wie Theater kritiker . Literatur redakteur . Oder Musik lehrerin . „Wenigstens“, pflegte Helga zu sagen, „kein Oxymoron wie katholische Frauenbewegung .“ Sie tröstete mich immer, wenn mich das Gefühl beschlich, ein Versager zu sein. „Wer es nicht zum Künstler oder Wissenschaftler bringt“, sagte sie gern, „wird eben Journalist. Daran ist nichts Ehrenrühriges.“ Ich bildete mir stets ein, in dieser Beschwichtigung eine Portion Verachtung mitschwingen zu hören. Dass sie mich schließlich verlassen hat, scheint diesen Verdacht zu bestätigen. Manchmal denke ich, wenn ich das Buch zu Ende geschrieben hätte, wäre sie vielleicht geblieben.

Mein Kollege Herbert Schiller, Ressortleiter für Politik und Wirtschaft, der von allen schlicht Herbert genannt werden möchte, war einst ein Journalist der alten Schule. In dieser Zeit waren wir beinahe Freunde. Doch dann geschah etwas mit ihm. Sei es, weil er plötzlich beschloss, Karriere zu machen, sei es, weil er schlechte Berater hatte: Er rutschte ab und tummelte sich plötzlich in jenem geistigen Biotop, dem heute alle modernen Führungskräfte entsprungen zu sein scheinen, die angetreten sind, dem Kultur- und Medienbetrieb dynamische Impulse zu geben: der fabelhaften Welt des Marketing.

Von dort kommen Menschen, die Worte wie Zielgruppe oder Synergieeffekt aussprechen können, ohne dabei auszusehen, als hätten sie in eine Zitrone gebissen. Sie sagen Sätze wie „leise ist das neue laut“, und der Spiegel, in den sie dabei blicken, zersplittert nicht. Erstaunlicherweise. Sie sitzen in den Vorstandsetagen von Theatern, Zeitungen und Kunstvereinen, erklären den dort vereinzelt noch vorkommenden Dinosauriern, die in Ideen vernarrt sind, dass Inhalt jetzt content heißt, wie man eine corporate identity entwickelt und dass man, sofern man nicht untergehen will, zur Marke werden muss.

Herberts Verhältnis zu mir ist mittlerweile gespalten. Er ist vor nicht allzu langer Zeit zum Feuilletonchef befördert worden und würde fast alles tun, um dem Chefredakteur zu gefallen, denn sein großes Ziel ist es, zumindest sein Stellvertreter zu werden. Dazu braucht er Verbündete, und ich hätte einer sein können. Es entgeht ihm jedoch nicht, dass ich bei manchen seiner Äußerungen während der Redaktionssitzungen den Eindruck erwecke, als müsse ich gerade eine Wurzelbehandlung über mich ergehen lassen, und er versteht nicht, warum ihn sein alter Freund mit einem Mal so viel Abneigung spüren lässt. Ich vermute, dass er sich manchmal wünscht, ich würde die Zeitung verlassen, doch der Chefredakteur ist der Ansicht, ein exzellentes Feuilleton (er spricht es immer aus wie Fauteuil ) brauche eine gute Wissenschaftsseite. Ich nehme an, er kennt niemanden außer mir, der diese Arbeit für einen solchen Hungerlohn erledigen würde. Als kürzlich ein Artikel von mir über die zweifelhafte Beweislage der Inflationstheorie im Spektrum der Wissenschaft zitiert wurde, war es nicht einfach, seinen Gesten des Stolzes zu entrinnen. Also musste mir auch Herbert gratulieren.

Meine Beziehung zu Herbert ist getragen von der Wehmut, einen gleichgesinnten Mitkämpfer verloren zu haben, und dem Zorn, Zeuge seines Irrweges zu sein und hilflos zusehen zu müssen, wie er dem Moloch der Vermarktung huldigt.

„Warum kündigst du nicht einfach?“, fragte Helga oft. Ja, warum? Für mich selbst habe ich zwei Antworten: Erstens, mein Kollege kann nichts dafür, dass ich ihn nicht mag. Zweitens, alles wird sich ändern, wenn mein Buch endlich fertig ist.

Helgas guter Freund Manfred, der seinen Lebensunterhalt mit populärwissenschaftlichen Büchern über Psychologie bestreitet (und ja, er beendet sie, eins nach dem anderen), hatte für mein Leiden einen Namen: Prokrastination. Da ich nicht verhindern konnte, dass wir ihn öfters zum Essen zu uns nach Hause einluden, durfte er mir seine Diagnose an meinem eigenen Küchentisch servieren.

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