Franziska Steinhauer
Schloßstraße
Ein Berlin-Thriller
Berlin-Thriller
Der Mann zwängte sich in sein schwarzes Outfit.
Hauteng – das verminderte die Gefahr, irgendwo hängen zu bleiben.
Keine Label.
Keine auffälligen Nähte.
Nichts Individuelles. Extravagantes.
Die Stiefel waren bis zur halben Wade geschnürt, die Hose tief hineingeschoben. Kein Fähnchen mit Logo – alles schwarz.
Einen leichten, schwarzen Seesack trug er über der Schulter, den er wärmend und verbergend über sich legen konnte. Die Dinge, die sich darin befanden, machten kein Geräusch. Jedes Teil war sorgsam in schwarzen Samt gewickelt. Das gesamte Arsenal in kleinen Teilen.
Handschuhe – schwarz.
Sturmhaube. Hochgeschoben sah sie wie eine harmlose Mütze aus.
Der Schädel – glattrasiert. Nichts, was man als Frisur identifizieren konnte.
In wenigen Minuten würde er seinen Platz einnehmen. Er – den ganz Deutschland in ein paar Stunden unter dem Namen Mr. No Mercy kennen würde.
No Mercy wohnte erst seit sechs Monaten hier.
Gerade so lang, wie er brauchte, um seinen Plan auszuarbeiten und alles für die Durchführung in die Wege zu leiten, zu besorgen, auszuprobieren. Dennoch hatte er es nicht versäumt, sich mit den Nachbarn locker zu befreunden. Keine Hürde, wenn man so ein sympathischer Typ war wie er. Offen, freundlich, höflich, hilfsbereit …
Er hatte die Katze des linken Nachbarn versorgt, die Enkelin des rechten von der Schule abgeholt, als der plötzlich zum Zahnarzt musste, war für die alte Frau Meister in der dritten Etage einkaufen gegangen. Alle waren froh, ihn als Mitmieter in der Hausgemeinschaft zu haben.
Er grinste abschätzig in den Spiegel.
Wenn man wusste, wie es funktionierte, war es kein Problem, Menschen zu manipulieren. In seinem letzten Job gehörte diese Fähigkeit quasi zur Stellenbeschreibung. Wie sollte man sich sonst Vertrauen erschleichen, um in die Häuser misstrauischer Menschen eingeladen zu werden. Seine Nachbarn würden alle ziemlich entsetzt sein, wenn sie bemerkten, wem sie da so grenzenlos vertraut und sogar ihre Liebsten zur Betreuung überlassen hatten.
Während er also über die persönlichen Verhältnisse der anderen Hausbewohner bestens informiert war, würden diese erst bei den Interviewfragen der Boulevardblätter feststellen, dass sie selbst nichts über seinen persönlichen Hintergrund zu erzählen wussten. Sorgfältig hatte er darauf geachtet weder von Familie, Alter, Beruf oder gar Hobbys zu sprechen, im Gegenteil, er war derjenige, der sich jederzeit und jedermann als Zuhörer anbot. Aktives Zuhören war eine Spezialbegabung bei ihm, die er zur Perfektion trainiert hatte.
Die Menschen erzählten – alles.
Er verschwieg.
Dunkle Geheimnisse blieben eben lieber im Dunkel. Das hatte er schon früh begriffen.
Zufrieden mit seinem Outfit, schulterte er den Seesack, verließ seine Wohnung, in der außer einem Bett kaum andere Möblierung vorhanden war, und machte sich auf den Weg.
Ab sofort war er die Quelle maßlosen Schreckens.
Es wurde Zeit, dass auch Berlin das bemerkte!
Manja und Tobias tobten durchs Wohnzimmer.
»Nein! Das ist nicht wahr! Ich habe die Gummibärchen nicht allein aufgegessen!«, brüllte Tobias bebend vor Zorn und stampfte mit dem Fuß auf. »Du warst das! Ich habe nur ganz wenige davon abgekriegt.«
»Und es ist trotzdem so«, gab die Schwester patzig zurück. »Bei der Schokolade neulich hast du das auch behauptet. Und da klebte der Rest noch an deinen Fingern. Mama weiß genau, dass du sie weggenascht hast. Sie wird dir nicht glauben. Auch wenn du lügst: Ich weiß, dass du es warst. Es ist die Wahrheit!«
»Ist es nicht!«, beharrte der Kleine. »Du hast sie alle aufgegessen! Ich nicht. Das ist nicht wahr!«
»Ist es doch!«
»Nein!«
Als den beiden die Worte ausgingen, flogen die Fäuste, kratzten Fingernägel, hackten Tritte. Handgreifliche Argumente hatten, Manjas Meinung nach, bei ihrem Bruder größere Überzeugungskraft.
Hatten sie nicht.
Zumindest nicht heute.
Tobias war nicht gewillt, in diesem Punkt nachzugeben.
»Was ist denn hier los?« Die Mutter trennte mit geübten Griffen die beiden Streithähne aus der gegenseitigen Umklammerung.
»Ich habe von den Gummibärchen nur ganz wenige genascht«, quengelte Tobias weiter. »Manja sagt immer, sie darf mehr davon abbekommen, weil sie schon sechs ist und ich erst vier.«
»Sicher, sie ist die Ältere von euch beiden«, bestätigte die Mutter. »Aber beim Teilen von Süßem spielt das gar keine Rolle.«
Der Kleine fing an zu weinen. »Sie hat meine …«
»Das ist doch nicht so schlimm. Wir werden sicher noch ein paar finden«, beschwichtigte die Mutter.
Die Schwester grinste. Triumphierend. »Siehst du. Mama glaubt dir nicht.«
»Aber es stimmt! Sie hat …«
»So, Schluss jetzt mit dem Gezanke. Wir gehen alle zusammen in den Zoo. Papa kommt mit.«
»Juchhhuh!«, jubelten die Geschwister einträchtig.
Wischten sich die Spuren der Tränen von den Wangen, funkelten sich ein letztes Mal wütend an.
»Kommt, ich mache noch einen heißen Kakao für euch.« Monika wusste, Schlichtung funktionierte in beinahe allen Fällen auf diese Weise. Lachend sah sie den Kindern nach, die in die Küche tobten.
Der Streit war fast vergessen.
Björn Andermatt stand unter der Dusche und genoss das warme Wasser, das über seinen durchtrainierten Körper floss.
Frei!
Ein ganzes Wochenende mit der Familie. Gestern Weihnachtswaldspaziergang, heute Zoo.
Sein Handy klingelte fordernd.
»Ich habe frei!«, rief er ihm zu. Als es nicht aufhörte, stöhnte er genervt. Stellte das Wasser ab.
»Andermatt hier – und nur zur Info: Ich bin nicht im Dienst!«
»Wir haben hier einen Notfall!«
»Ich nicht! Ihr vielleicht. Johann, dieses Wochenende gehört meiner Familie.«
»Björn, wir brauchen dich. Geiselnahme im Cube. Steglitz ist doch bei dir um die Ecke. Der Täter hat schon eiskalt zwei Leute erschossen, sich nun im Möhrchen, diesem Bioladen im Erdgeschoss, verschanzt. Er stellt keine Forderungen, die von ihm als Voraussetzung für die Freilassung der Geiseln benannt werden, kein Laut ist zu hören. Wir haben nur die Drohung von ihm, es werde noch viel mehr Opfer geben, und die Aussage, er wolle den Besten. Dich!«, haspelte Johann Steinmann eilig, als fürchte er, Björn könne das Gespräch beenden, bevor er alle Informationen gegeben hatte.
»Was?« Björn zuckte zusammen.
»Er will, dass du den Einsatz übernimmst.«
Andermatts Gedanken überschlugen sich. »Seit wann suchen sich Kidnapper ihre Gesprächspartner bei der Polizei selbst aus? Habe ich da was verpasst? Und woher weiß der Kerl von mir?«
»Wir wissen nichts. Gar nichts. Vielleicht hat er dich ja mal bei einer Liveübertragung von irgendeinem Einsatz gesehen. Alles Spekulation.«
»Wer ist er?«
»Wissen wir auch noch nicht. Er macht keine Angaben. Bisher gibt es nur den Zettel mit der Drohung. Computerausdruck, also vorbereitet. Kein Hinweis auf eine Organisation oder Gruppe von Aktivisten im Hintergrund, für die er stellvertretend Geiseln genommen hat. Komm her, sieh dir das Video an. Dann verstehst du, was das für einer ist. Wir haben erste Opfer – einfach so abgeknallt. Der Kerl ist irgendwie unheimlich.«
»Habt ihr Kontakt?« Der Einsatzleiter seufzte.
»Nein. Wir haben keine Ahnung, wie er reagiert, wenn plötzlich das Telefon klingelt. Und selbst hat er noch keinen Versuch unternommen, uns zu erreichen.«
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