»Du liebst sie immer noch! Nicht wahr?«, sagte Cháris überrascht.
»Sei nicht blöd!«, gab Takis zurück und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Ich suche Kostas!« Seine Hände packten plötzlich Cháris Kragen und am liebsten hätte er diesem arroganten Fatzke den Hals herumgedreht. »Und jetzt sprich!«
»Ist ja gut! Ist alles gut, Mensch!« Cháris Ton wurde weicher. »Lass los! Ich sage dir, was ich weiß, aber lass mich los!«
Takis löste langsam den Griff, ließ Charis aber nicht aus den Augen.
Cháris ordnete sein Hemd, sammelte die heruntergefallenen Akten wieder auf und erzählte von einer Baufirma. »Name und Adresse«, verlangte Takis. Außerdem erfuhr er noch von einer Verleumdungsklage, die Kostas angeleiert hatte und von der Zeit, als Rika immer wieder nach Athen fuhr und es nach einer Krise in deren Beziehung »roch«.
»Wieso roch?« Takis konnte diese Art von Sprache nicht ausstehen.
»Weil Kostas nie offen darüber sprach«, erklärte Cháris. »Aber ich rieche Beziehungsprobleme von weitem!«
»Da sprichst du wohl aus eigener Erfahrung«, bemerkte Takis ironisch und notierte alles, was Charis außerdem noch preisgab: genaue Details zu den Gerüchten, wann die Vorwürfe erstmals bekannt wurden, an welchen Projekten Kostas in der letzten Zeit gearbeitet, wann er Urlaub und wer alles dieses Büro betreten hatte.
Takis verließ trotzdem unzufrieden das Gebäude. Er hatte auf mehr Konkretes gehofft und das Gespräch als äußerst zäh empfunden. ›Du liebst sie immer noch! Nicht wahr?‹ – Dieser Satz bohrte sich in sein Gehirn, und der Gedanke brannte wie Feuer. Wie konnte Cháris das nur zu ihm sagen? Warum wusste dieser kleine Beamte mehr, als er sich selbst eingestehen konnte? War dieser 23. August nicht längst Vergangenheit?
Takis setzte sich seine dunkle Sonnenbrille auf und bedeckte eine Träne, die ungewollt aus seinem linken Auge rann. Fürchterliche Wut auf sich selbst und Charis bescherte ihm diesen Ausbruch. Der unverschämte Typ hatte ihn durchschaut, es ihm frech ins Gesicht gesagt. Er wusste bis zum heutigen Tag nicht genau, was es bedeutete »nah am Wasser gebaut zu haben«. Er wunderte und schämte sich zugleich – mit 55 Jahren den alten Feigenbaum im Rücken, an der Promenade weinen zu müssen. Sollte Kostas doch für immer verschwunden bleiben! Er erkannte sich selbst nicht mehr.
Schnell stieg er in sein Auto. Radio an, Motor an, Fenster zu, die Musik ganz laut. So konnte er sein eigenes Weinen und Schluchzen übertönen.
Ein knappes Jahr vorher – Oktober 2012
Europazentrale der AquaTop AG Amsterdam, Niederlande
Dr. Alexander Brünner hatte gegen 19:00 Uhr berauscht die Europazentrale der AquaTop AG verlassen, nachdem er von vielen Kollegen zu seinem erfolgreichen Coup beglückwünscht worden war. Wie erhofft, war während der Videokonferenz mehrfach von Tom Polster erwähnt worden, dass man im Headquarter jetzt ganz auf ihn setze, das frisch erworbene Familienunternehmen auf den richtigen Kurs zu bringen. Schon für Montag der kommenden Woche war ein erster Kaizen angesetzt worden, früher hätte man das als Workshop zur kontinuierlichen Verbesserung bezeichnet, der zur Analyse der möglichen Einsparpotentiale dienen sollte. Denn obwohl OsmoTec ein überdurchschnittlich profitables Unternehmen war, reichte das der AquaTop AG bei weitem nicht aus. Erste vorsichtige Berechnungen waren bereits durchgeführt worden und im strategischen Plan des Global Players hatte man eine fünfprozentige Steigerung des operativen Profits in den nächsten zwei Jahren vorgesehen. Eine auf höchster Ebene getroffene Entscheidung, die keine Diskussionen zuließ und Brünner war sich dieses anspruchsvollen Zieles voll bewusst.
In einer E-Mail mit dem Hinweis – Streng Vertraulich – hatte man ihm bereits die durchleuchteten Bereiche, in denen man Optimierungsbedarf witterte, mitgeteilt. Ganz oben an stand wie immer in solchen Fällen das Personal. Human Resources hatte bereits alle Mitarbeiter ab einem bestimmten Einkommen durchleuchtet und Vorschläge zu denjenigen gemacht, auf die man ihrer Meinung nach verzichten könne. Auf Platz zwei der Liste stand ein Produktionsstandort in Deutschland, der schnellstens nach China verlagert werden sollte. Es folgten weitere Hinweise auf andere Abteilungen des Familienunternehmens, die längst nicht das Potenzial wie die beiden ersten Segmente boten, aber durchaus einer Prüfung unterzogen werden sollten. So hatte man unter anderem alle Materialien, die zur Herstellung der Module eingesetzt wurden, in Frage gestellt. Eine Aufgabe des Kaizen-Teams würde darin bestehen, nach billigeren, alternativen Werkstoffen zu suchen. Des Weiteren hatte man alle Verbrauchsmaterialien aufgelistet, die im Routinebetrieb der Anlagen und zur Wartung der Entsalzungsmodule regelmäßig benötigt wurden. Dazu gehörten einige Ersatzteile, die regelmäßig getauscht werden mussten und eine Reinigungslösung, um Kalkablagerungen und andere Partikel aus den teuren Aggregaten zu entfernen. Einige dieser Verbrauchsstoffe waren teuer, weil sie eine spezielle Zertifizierung erforderten, die erst den Einsatz in der Trinkwasseraufbereitung erlaubte. Fast schon zur Routine gehörte die Überprüfung aller Lieferanten von OsmoTec, mit denen man die bestehenden Verträge dringend nachverhandeln musste.
Brünner überflog die aus dem Headquarter geschickte Liste und ging im Kopf die Teilnehmer des anstehenden Kaizens durch. Insgesamt waren 12 Mitarbeiter dafür abgestellt worden, und diese würden sich ab Montag 09:00 bis Freitag 16:00 ausschließlich damit beschäftigen alle Vorschläge, der von Tom Polster persönlich erstellten Übersicht unter die Lupe zu nehmen. Ziel war es, eine Priorisierung aller Punkte festzulegen, um zu erkennen, wo am schnellsten möglichst viel Geld eingespart werden konnte. Zunächst einmal Erfolge aufzeigen, belegen dass was geht, dachte Alexander Brünner euphorisch. Er würde das Kaizen-Team nächste Woche schon richtig fordern. Wenn die Bereiche mit den Top-Einsparungen dann schließlich feststanden, würde es zahlreiche Folge-Kaizen geben, in denen alle Details der einzelnen Maßnahmen erarbeitet werden würden.
Die in Japan entwickelte Methode war Gesetz bei der AquaTop AG sowie in vielen anderen Betrieben auch und wurde zur Qualitätssteigerung und zur Kostensenkung eingesetzt. Fast jede Woche fand eine dieser Veranstaltungen in den unterschiedlichen Niederlassungen des Konzerns statt, und sie hatten meistens einen militärischen Charakter. Es herrschte häufig ein Kasernenton während der drei bis fünf Tage dauernden Meetings, weil die Mitarbeiter unter enormen Druck am letzten Tag ein Resultat präsentieren mussten. Dieses Ergebnis würde bis zum Erreichen der gesteckten Ziele akribisch kontrolliert werden, und für viele Angestellten war es ein Graus, in eine der ständig stattfindenden Arbeitsgruppen einberufen zu werden. Nicht nur, weil die alltägliche Arbeit während eines Kaizen einfach liegen blieb, was zur Folge hatte, dass viele weit über das normale Maß hinaus täglich arbeiteten, um den Arbeitsstau nicht zu groß werden zu lassen. Nein, auch der einem Ritual gleichende Ablauf dieser Kaizens bereitete einigen Mitarbeitern erhebliche Probleme.
Alexander Brünner war sich darüber im Klaren, welche Erwartungen an ihn in den nächsten Monaten gestellt wurden, aber er liebte diese Herausforderungen. Sein Adrenalinspiegel war auf einem extrem hohen Level, und er brauchte jetzt dringend eine Gegenmaßnahme, um wieder auf ein gesundes Niveau herunter zu kommen. In der großen Lobby der AquaTop AG scrollte er die Kontakte auf seinem Handy durch und nach wenigen Sekunden hatte er die Nummer seiner geschätzten Domina im Display. In der Regel bekam er einen kurzfristigen Termin, um bei ihr vorstellig zu werden. Die Dame hatte einen guten Riecher für finanzstarke Kunden. Schon mehrfach hatte er sich während der normalen Arbeitszeit aus seinem Büro gestohlen, um sich in dem kleinen Studio von Madame Karen kurzfristig Erleichterung zu verschaffen.
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