Er parkte seinen Wagen im Schatten der großen Sträucher, seine Augen suchten unruhig die unmittelbare Umgebung ab, Ausschau haltend nach dem unbekannten Anrufer, der ihm in gebrochenem Englisch die Nachricht hinterlassen hatte. Doch er konnte keinerlei Anzeichen von einem weiteren Besucher in der verlassenen Gegend entdecken, so wie meistens, wenn ihn eine Routinebegehung des großen Speichers nach hier oben führte. Diese machte er regelmäßig, um sicherzustellen, dass sich keine Vögel oder sonstiges Getier Zugang zu dem verschlossenen Behälter verschafft hatten und für eine Verunreinigung des Wassers sorgten.
Er war eine gute Viertelstunde früher zu dem Treffen erschienen, um die Ankunft des Anrufers beobachten zu können, und sein Plan schien aufzugehen, dachte er, als er den steinigen Weg bis zu dem kleinen Tor entlanglief, das den Zugang zu dem eingezäunten Areal frei gab. Doch das verwitterte, alte Holzgatter, welches normalerweise mit einer rostigen Eisenkette versperrt war, stand offen, was ihm äußerst seltsam vorkam. Außer ihm hatte nur noch sein Kollege einen Schlüssel, und der saß zweifelsohne in seinem Büro in Parikia und ärgerte sich darüber, den Rest des Nachmittages allein die anstehenden Arbeiten erledigen zu müssen. Vorsichtig betrat er das eingezäunte Gelände, immer damit rechnend den Unbekannten anzutreffen. Er ging langsam weiter auf die beiden massiven Felsblöcke zu, hinter denen sich die dicke Stahltür, die den Zugang zu der eigentlichen Zisterne freigab, versteckte. Fast hätte es ihm den Atem verschlagen, als er erkennen musste, dass auch diese Tür offenstand, und eine innerliche Stimme drängte ihn den Rückzug anzutreten. Doch er wollte wissen, wer sich da unerlaubten Zutritt zu dem Wasserbehälter verschafft hatte und näherte sich vorsichtig der halb geöffneten Tür. Zögerlich setzte er den ersten Schritt in das dunkle Innere des großen, von außen vollständig bewachsenen, unterirdischen Gebäudes. Seine Augen, noch geblendet von der hellen Sonne, konnten schwach die Umrisse der steilen Treppe erkennen, die hinunter zu der Wasseroberfläche führte. Dann nahm er noch für den Bruchteil einer Sekunde einen schwarzen Schatten seitlich von ihm wahr, und ein dumpfer Schlag auf seinen Kopf ließ ihn kopfüber die modrigen Treppenstufen hinabstürzen.
Katharina Waldmann
Parikia, Paros
Katharina Waldmann schaltete gerade die Alarmanlage ein und griff nach ihrer Jacke, um nach einem langen Tag in ihrer Dienststelle endlich den Feierabend einzuläuten, als sie von einem heftigen Klopfen an der Eingangstür unterbrochen wurde. Es war ein eher ruhiger Tag gewesen in der Polizeidienststelle. Die Insel schüttelte langsam die letzten Urlauber ab, sodass nach drei überaus betriebsamen Monaten, der langersehnte Paroanische Alltag wieder einkehren konnte. Ab nächstem Montag würde der Winterfährplan gelten, und das war immer der Startpunkt für die stillere Zeit des Jahres. Zur Zufriedenheit der Bevölkerung hatte der Tourismus auch in diesem Sommer wieder zugelegt, was allen auf Paros guttat und ein wenig über die spürbaren Folgen der Krise hinweghalf. Die Presse sprach zwar davon, dass das Schlimmste überstanden sei, doch bei den normalen Leuten war bisher wenig davon zu spüren. Die hohen Steuern und das Verschwinden des staatlichen Gesundheitssystems hatten viele Inselbewohner an den Rand des Ruins getrieben.
Erneut klopfte jemand ungestüm an die Tür. Katharina stand missmutig auf. Ihr gesamtes Team, welches aus vier männlichen Polizeibeamten und einer Kollegin bestand, war schon vor einiger Zeit gegangen, und sie hatte sich daran gemacht ihren Schreibtisch zu ordnen. In der Hektik von Juli bis September war daran nicht zu denken, und dementsprechend sah das Chaos an ihrem Arbeitsplatz auch aus. Fast zwei Jahre waren jetzt schon vergangen, seit sie die Leitung der Dienststelle in der Hauptstadt von Paros übernommen hatte, und nach wie vor bereute sie es keine Sekunde Athen den Rücken gekehrt und sich auf ihrer Lieblingsinsel neu eingerichtet zu haben. Ihr neuer Lebensmittelpunkt war jetzt Paros, ganz besonders Ambelas, der kleine Ort in der Nähe von Náoussa im Norden der Insel, der ihr so richtig ans Herz gewachsen war. Anfangs hatte sie noch etwas mit den einsamen Wintermonaten in dem beschaulichen Dorf gehadert, aber nachdem Dawid, ihr neuer Lebenspartner, bei ihr eingezogen war, hatte ihr Privatleben nach langer Durststrecke eine positive Wendung genommen. Sie war rundum zufrieden.
Sie lief die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, um dem ungeduldigen Fremden die Tür zu öffnen. Draußen dämmerte es bereits, vor lauter Aufräumarbeiten hatte sie total die Zeit vergessen.
»Kalispera. Was gibt’s so Dringendes?«
»Ich brauche Ihre Hilfe! Mein Mann …«
»Was ist mit ihm?«
Vor Katharina stand eine Frau mit ängstlich aufgerissenen Augen. Sie trug einen schwarzen kurzen Rock und hohe Stöckelschuhe. Ihr Haar war wild zerzaust.
»Mein Mann ist weg!«
Mit einer knappen Handbewegung bat Katharina die ihr fremde Person einzutreten. »Mein Mann ist verschwunden!«, wiederholte die Unbekannte aufgebracht. Katharina zeigte ihr den Weg in das Büro ihres Stellvertreters Filippos, das als nächstes zur Eingangstür lag. »Setzen Sie sich erst einmal.«
»Ich will eine Vermisstenanzeige aufgeben «, sagte die Frau mit verzweifelter Stimme. Katharina zeigte auf den Stuhl, auf dem die Fremde Platz nehmen sollte. »Helfen Sie mir!«, flehte sie und legte ihre große rote Handtasche auf den Schreibtisch.
Katharina lies ihre Jacke auf den Bürostuhl fallen und berührte behutsam die Schulter der verängstigten Frau.
»Wie heißt Ihr Mann?« Die Stimme der Kommissarin klang professionell.
Die Frau rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her.
»Kostas.«
»Und sein Nachname?«
»Aristidis.«
Katharina wurde ungeduldig.
»Wie lange vermissen Sie ihren Mann denn schon?«
»Noch nicht sehr lange«, erklärte die verunsicherte Frau verlegen, während sie aus ihrer Handtasche ein Smartphone hervorkramte und begann nach Bildern zu suchen. »Mein Kostas …«, flüsterte sie leise und legte das Gerät auf den Tisch, um mit Hilfe ihres Zeigefingers und Daumen ein Bild zu vergrößern.
Katharina betrachtete eine Weile das Foto: Ein Mann, Anfang Fünfzig mit schwarzen Haaren und Oberlippenbart lächelte in die Kamera. Seine braunen Augen leuchteten im Sonnenlicht, ein dunkles kleines Muttermal saß markant auf seiner rechten Wange. »Kann es einen Grund für sein Verschwinden geben?« Ohne eine Antwort abzuwarten zog sie ein Formular aus einer Schublade um die Personalien aufzunehmen.
»Was für einen Grund sollte es geben?« Ein beleidigter Blick richtete sich auf die Kommissarin. »Kostas kommt immer sehr pünktlich nach Hause!«
»Wie heißen Sie?«
»Wieso fragen Sie mich nach meinem Namen?« Die Frau blickte Katharina fragend an. »Mein Mann ist verschwunden! Den sollen Sie suchen! Kostas! Kostas Aristidis, heißt er«, wiederholte sie und zeigte hektisch auf das Bild.
Katharina musste sich zusammenreißen. Dramatische Auftritte konnte sie nicht leiden, schon gar nicht um diese Zeit. »Ich muss Ihre Personalien aufnehmen, liebe Frau.«
Die Besucherin erschrak über den bestimmenden Ton der Kommissarin.
»Also! Wie ist ihr Name?«
»Rika«, antwortete die Frau und griff sich in ihr verstrubbeltes Haar. Eine wilde, blond gefärbte Mähne fiel jetzt über ihre Schultern.
»Rika?«, hinterfragte die Beamtin mit leichter Verwunderung. »Das ist doch kein Name! Höchstens ein Kosename!«
»Natürlich ist es ein Kosename!«, bestätigte die Frau aufgewühlt und fügte leise hinzu: »Eine Abkürzung von Marika, aber ich werde immer Rika gerufen.«
»So, so! Marika. Und Ihr Nachname lautet ebenfalls Aristidis?«
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