Wer war sie bloß?
Irenes Gedanken kehrten zu Jacob zurück. Ein weniger robuster Mann als er wäre der Verletzung vielleicht erlegen. Schon der Schock, als das Blei den Kopf traf, mußte ungeheuerlich gewesen sein.
Die Männer der Wachablösung, deren Schritte Irene alarmiert hatten, kamen die Treppe herunter.
Die Frau war froh, daß ihr kleiner Jamie neben Jacob lag und friedlich schlief. So konnte sein Geschrei nicht die Aufmerksamkeit der Seeleute auf den verwundeten Zimmermann lenken.
Sie sehen fast aus wie Vater und Sohn, dachte Irene zärtlich.
Sie schüttelte diesen Gedanken ab. Er war unsinnig, selbst wenn sie es sich wünschte.
Jamies Vater hieß Carl Dilger. Carl, der ein Leben als Sohn des reichen Reeders Wilhelm Dilger für Irene geopfert hatte. Der nach Amerika gefahren war, um für sich und seine Familie eine neue Zukunft aufzubauen. Der jetzt auf den kalifornischen Goldfeldern sein Glück zu machen hoffte.
Ihm hatte sie ihr Herz versprochen.
Nicht Jacob!
Irene hörte zur ihrer großen Verwunderung eine Stimme, die sie kannte. Piet Hansen führte die Wachablösung an.
Der Kapitän des Schiffes selbst?
Das war seltsam.
Aber hatte er ihr nicht versprochen, von sich hören zu lassen?
Die junge Frau schöpfte neue Hoffnung. Sie verließ den dunklen Winkel, in den sie sich zurückgezogen hatte, und spähte zu der Treppe nach achtern.
Was sie sah, verwirrte sie noch mehr. Nur Piet Hansens vertraute Gestalt trat ins Licht der Öllampe. Seine Begleiter schienen sich absichtlich im Schatten verborgen zu halten.
Ein anderer Mann trat auf Hansen zu, ein knochiger Kerl -Georg Möller.
»Gehen Sie mit Ihren Leuten rauf, was essen und dann mal 'ne Mütze voll Schlaf nehmen, Möller«, brummte der Kapitän und zeigte mit dem Daumen nach oben. »Sie haben es sich verdient.«
»Wollen Sie selbst die Nachtwache hier unten übernehmen, Käpten?« fragte verwundert der Erste Steuermann.
»Ja, ich kann nicht schlafen. Da kann ich ebenso gut hier unten hocken und darüber brüten, wie wir die vermaledeiten Yankee-Schiffe ausmanövrieren, falls sie uns noch einmal in die Quere kommen.«
»Schön«, meinte Möller und rief seine Männer zusammen, um endlich das muffige Zwischendeck zu verlassen. »Hier ist alles ruhig, Käpten. Schelps Kugel und Ihre Ansprache haben dem Pack den Wind aus den Segeln genommen.«
»In Ordnung«, nickte Hansen. »Schlafen Sie gut.«
Möller tippte in der Andeutung eines Grußes an seine Seemannsmütze und führte seine Männer zum Decksaufgang. Als sie den unteren Treppenabsatz erreicht hatten, lösten sich Hansens Begleiter aus den Schatten.
Alles ging sehr schnell. Die bisher im Halbdunkel verborgenen Seeleute schwangen schwere Knüppel und ließen sie auf die Köpfe ihrer Kameraden niedersausen.
Mehrere der so überraschend Getroffenen stöhnten dumpf auf. Zu mehr waren sie nicht mehr fähig. Sie sackten zu Boden wie schwere, träge Säcke.
Nur Möller stand noch aufrecht und zog den, Revolver aus seinem Hosenbund.
»Fallen lassen!« bellte Piet Hansen. Der sechsschüssige Kerr-Revolver Kaliber .442 in seiner Rechten unterstützte den Befehl.
Dennoch zögerte Möller, ihm nachzukommen. Er brachte seine eigene Waffe nicht in Anschlag, aber er ließ sie auch nicht los.
Erst als der Kapitän drohend den Hahn spannte, änderte der Erste Steuermann seine Meinung. Polternd fiel sein sechsschüssiger Webley auf die hölzernen Planken.
»Sehr vernünftig«, nickte Piet Hansen zufrieden. Er ließ den Hahn langsam zurückgleiten, behielt die Waffe aber in der Hand. »Und jetzt haben Sie die Wahl, Möller. Wollen Sie mein Gefangener sein? Ich verbürge mich dann dafür, daß Ihnen nichts geschieht, bis ich Sie den Behörden in San Francisco übergebe. Oder stellen Sie sich auf meine Seite, bedingungslos?«
»Was geschieht dann?« fragte der Knochige vorsichtig.
»Dann bringen wir die ALBANY gemeinsam nach Frisco.«
»Und stellen uns dort etwa den Behörden?«
Hansen nickte wieder. »Ja, so habe ich mich entschieden. Ich will reinen Tisch machen. Der Krieg zwischen dem Norden und dem Süden ist nicht meine Sache, ich bin Deutscher. Aber schon weil ich kein Freund der Sklaverei bin, möchte ich die Konföderierten nicht unterstützen. Außerdem fährt die ALBANY immer noch unter der Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika. Wäre irgendwie nicht richtig, mit ihr konföderiertes Kriegsgut zu schmuggeln.«
»Wo ist da für mich der Unterschied?« wollte Möller wissen. »Ich komme so oder so in die Hände der Yankee-Behörden.«
»Der Unterschied liegt doch auf der Hand. Wenn ich Sie als Gefangenen abliefere, sind Sie ein überwältigter Blockadebrecher. Wenn Sie Frisco aber als freier Mann und Schiffsoffizier der ALBANY betreten, gehören Sie zu den Männern, die den Yankees die Schurken ausliefern. Meinen Sie nicht, daß das die Blauröcke irgendwie beeindruckt?«
Überlegend rieb Möllers Rechte über das hervorspringende Kinn, so heftig, als wolle sie den Knochen des Unterkiefers freilegen.
»Käpten!« stieß er endlich hervor. »Ich stehe auf Ihrer Seite!«
»Gut.« Zufrieden steckte Hansen den Kerr zurück in seine Jacke. »Dann heben Sie endlich Ihren Revolver auf.«
»Einfach so?« fragte Möller erstaunt. »Sie. vertrauen mir?«
»Irgendwann muß man damit anfangen«, antwortete der Kapitän freimütig. »Falls Sie ein falsches Spiel treiben, möchte ich es so früh wie möglich wissen. Am besten jetzt!«
»Ich meine es ehrlich«, sagte Möller und bückte sich langsam nach dem Webley.
Dabei beäugte er skeptisch den Kapitän, als befürchte der Steuermann, Hansen wolle ihm eine Falle stellen.
Der Knochige hob seine Waffe auf, hielt sie einen Augenblick zögernd in der Rechten und steckte sie dann in den Gürtel.
»Was ist mit Ihren Leuten?« fragte der Kapitän den Steuermann und sah auf die fünf Seeleute hinab, die so unsanft schlafen gelegt worden waren. »Könnten sie wieder zu meinen Leuten werden?«
»Aye, Käpten, wenn ich ihnen die Sache auseinanderklamüsere.«
»Dann fangen Sie gleich damit an, Möller! Oben liegen noch welche. Die richtige Wachablösung. Sie hat auch unser Holz zu schmecken bekommen.«
Der Kapitän sah die Männer mit den Knüppeln an und befahl: »Nehmt die Revolver der Burschen an euch! Sie kriegen die Waffen nur zurück, wenn sie die richtige Wahl treffen. Großer, du sorgst dafür, daß die schlafenden Schönheiten von der Wachablösung hierher geschafft werden.«
»Aye, aye«, grinste der angesprochene Seemann und eilte die Treppe hinauf.
Irene trat auf Hansen zu und sagte erleichtert: »Das ist der alte Piet, den ich kenne. Am liebsten würde ich Ihnen um den Hals fallen und auf jede Wange einen dicken Kuß geben, Käpten!«
»Ich bin unbewaffnet, Mädchen«, lächelte der Kapitän und hob zum Beweis die leeren Hände. »Niemand hindert dich.«
Er hatte kaum ausgesprochen, da machte die junge Frau ihre Ankündigung auch schon wahr. Als sie ihn wieder losgelassen hatte, fragte er, wie es Jacob ging.
»Ein Arzt würde sagen, den Umständen entsprechend.«
»Leider haben wir keinen Arzt an Bord«, seufzte Hansen. »Ich hatte nicht mit einer solchen Springflut an Ärger gerechnet, als ich in Hamburg ablegte.«
Aber nun sah es so aus, als sollte sich das Blatt für ihn wenden. Von allen Seiten erhielt er Hilfsangebote.
Die von Schelp bezahlten Männer, aus ihrem gewaltsam herbeigeführten Schlaf geweckt, wechselten ebenso das Lager wie Georg Möller, als sie ihre Felle davonschwimmen sahen.
Immer mehr Passagiere strömten aus den Tiefen des Zwischendecks herbei und boten Hansen ihre Hilfe an, als er sie über die wahren Hintergründe der heutigen Auseinandersetzungen aufklärte. Allen voran zwei grobgesichtige irische Kleiderschränke, die Zwillingsbrüder Bartly und Gypo Connor. Sie hatten die Kajüte, die sie und ihre Schwägerin Katie O'Faolain samt deren Sohn Timmy sich mit Jacob, Irene und Jamie teilten, verlassen müssen, als Schelp die Passagiere ins Zwischendeck sperren ließ. Das fanden sie mehr als unfreundlich. Und da die Connors, wie auch die O'Faolains, nichts so sehr haßten wie Unfreundlichkeit, erklärten sich die Zwillinge, wie stets vertreten durch Bartly, als erste unter den Passagieren bereit, dem Kapitän zur Seite zu stehen.
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