Aus welchem Grund auch?
Was hatte sie dagegen, daß man ihr Gesicht sah?
Der alte Seebär dachte daran, wie sie mit voller Absicht auf Jacob Adler geschossen hatte, der jetzt im Zwischendeck lag und zwischen Leben und Tod schwebte. Mit einem festen Ruck zog er den schwarzen Hut und den daran befestigten Schleier weg.
Der Anblick ließ ihn ebenso erstarren wie alle anderen Männer in der Kabine. Entsetzte Rufe drangen aus einigen Mündern. Ein Mann bekreuzigte sich.
Auch Abel McCord stierte mit hervortretenden Augen das an, was man nur schwerlich ein Gesicht nennen konnte. Bei dem Gedanken an seine intimen Erlebnisse mit dieser Frau stülpte sich sein Magen um. Er konnte sich nicht einmal mehr nach vorn beugen, so schnell mußte er sich übergeben.
»Grundgütiger!« seufzte Piet Hansen und beeilte sich, Hut und Schleier wieder an den angestammten Platz zu bringen. Dann streifte er die Röcke über die nicht minder entstellten Beine, deren Zustand er bisher gar nicht bemerkt hatte.
Er starrte die Frau an und fragte: »Wie. wie ist das bloß passiert?«
Als er keine Antwort erhielt, fragte er: »Wer sind Sie überhaupt?«
Endlich sagte die Frau etwas, das an das Zischen einer Schlange erinnerte: »Dafür werde ich Sie töten, Kapitän!«
Hansen wandte sich von ihr ab.
Er befahl, die vier Gefangenen an Armen und Beinen zu fesseln und in der vordersten und größten Kabine, Schelps Unterkunft, zusammenzulegen. Vor der Tür wurde ein bewaffneter Wachtposten aufgestellt.
Alle Kabinen und die Gefangenen wurden sorgfältig nach Waffen durchsucht. Schußwaffen und Messer wurden eingesammelt und mitgenommen.
Aber niemand achtete auf den kleinen, für seinen Besitzer in der jetzigen Situation scheinbar unnützen Angeberstock, der neben dem gefesselten Schelp auf dem Kabinenboden lag.
*
»Alles in Butter«, rieb Piet Hansen zufrieden seine ledernen Seemannshände, als er ins Zwischendeck hinabstieg und sich Irene und Jacob näherte. »Die ALBANY hat ihren Kurs zum zweitenmal in dieser höllischen Nacht geändert, jetzt endgültig. Es geht nach Norden, nach Frisco. Und die vier Obergauner liegen hübsch zusammengeschnürt in der Kabine. Ist für sie zwar nicht gerade die bequemste Art zu reisen, aber ein bißchen zu leiden, wird ihren schwarzen Seelen nicht schaden.«
Die Miene des Kapitäns wurde ernst, als er vor den deutschen Auswanderern stand.
Irene hockte vor Jacob, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag, und tupfte seine Stirn mit einem feuchten Tuch ab.
»Wie geht es ihm?« fragte Hansen.
»Wie es einem so geht, über dessen Kopf eine ganze Büffelherde getrampelt ist«, stöhnte Jacob und schlug die grünbraunen Augen auf. »Jedenfalls fühle ich mich, als sei ich in eine Stampede geraten.«
Vorsichtig tastete seine Hand zum Kopf. Als die Finger den verbundenen Schädel berührten, zuckte der junge Deutsche vor Schmerzen zusammen.
»Er ist bei Bewußtsein!« rief Hansen erfreut aus. »Seit wann?«
»Vor drei Minuten hat er zum erstenmal die Augen aufgeschlagen«, antwortete Irene, deren kleiner Sohn noch immer friedlich schlummerte. »Und das erste, was er sagte, war, er habe Hunger.«
»Hunger?« echote der Kapitän ungläubig.
»Ja, Hunger«, bestätigte der verwundete Zimmermann mit noch brüchiger Stimme. »Ich fühle mich, als würde mein Magen in den Kniekehlen hängen.«
»Bei Neptuns Dreizack, jetzt fühle ich es auch!« nickte Hansen und strich über seinen Bauch. »Ist ja auch 'ne ziemliche Weile her, daß wir etwas gegessen haben. Was haltet ihr beide von einem intimen Mitternachts-Dinner am Kapitänstisch, bei Kerzenschein natürlich?« Nach einer kurzen Pause fügte er mit Blick auf den Verwundeten hinzu: »Falls Jacob aufstehen kann.«
»Immer, wenn es was zu futtern gibt«, grinste Jacob ein wenig überheblich.
Ihm ging es nicht halb so gut, wie er tat. Aber Gejammere half nicht weiter und würde die beiden Freunde nur beunruhigen.
Auf Hansen gestützt konnte er zur großen Kapitänskajüte gehen, deren prachtvolle Ausstattung der alte Seebär von seinem Vorgänger Josiah Haskin übernommen hatte.
Irene brachte den schlafenden Jamie mit.
Hansen ging in eine Ecke, öffnete eine mit aufwendigen Schnitzereien verzierte Wäschetruhe und sagte zu der jungen Mutter: »Leg deinen Sohn doch da hinein, Mädchen. Ein Kinderbett habe ich hier leider nicht.«
»Das werden Sie auch wohl kaum brauchen«, lächelte Irene und bettete Jamie vorsichtig in die Truhe.
Es ging besser, als sie gedacht hatte. Der überstehende Rand verhinderte, daß ihr Sohn aus dem provisorischen Bett fiel.
Während der Smutje in der Kombüse hantierte, um ein kräftiges Essen für den Kapitän und seine Gäste zu bereiten, brachte der Schiffsjunge, ein etwa dreizehnjähriger Neger, eine Blechkanne mit Kaffee und drei große Keramiktassen, die er mit der dampfenden schwarzen Flüssigkeit füllte.
Hansen nahm eine edel geformte Flasche aus einem Wandschrank und stellte sie auf den Tisch.
»Bester französischer Kognak, noch aus Josiah Haskins Beständen«, teilte er mit. »Wer möchte?«
»Ich nicht«, lächelte Irene. »Mir brummt noch der Kopf von dem, was heute geschehen ist.«
»Mein Schädel brummt zwar auch«, meinte Jacob, »aber etwas innere Wärme kann wohl nicht schaden.«
»Das ist ein Männerwort«, brummte Hansen zufrieden. Er reicherte Jacobs und seinen eigenen Kaffee mit einem ordentlichen Schuß des französischen Weinbrands an und setzte sich dann zu den beiden Auswanderern an den Tisch.
»Auf den Hafen von Frisco, den wir im Laufe des morgigen Tages hoffentlich wohlbehalten und ohne weitere Zwischenfälle anlaufen!« sagte der Kapitän laut, während er seine Tasse hob.
Dann nahm er einen ordentlichen Schluck. Ein paar dunkle Tropfen blieben in seinem Bart hängen und glitzerten im hellen Licht des über dem Tisch hängenden kristallenen Lüsters. Er stellte die Tasse zurück und schüttelte sich plötzlich. Sein eben noch Wohlbehagen ausdrückender Gesichtsausdruck verzog sich zu einer Grimasse.
»Was haben Sie, Piet?« fragte Irene, die selbst gerade einen Schluck getrunken hatte. »Ich finde, der Kaffee ist sehr gut. Oder schmeckt Ihnen der Kognak nicht?«
»Nein, der ist gut. Ich mußte nur gerade an diese Frau denken, an. an das. Gesicht!«
Das letzte Wort kam ihm nur schwer über die Lippen. Das Entsetzen, das er beim Anblick der entschleierten Frau empfunden hatte, spiegelte sich auf seinen Zügen wider.
»Sie haben das Gesicht gesehen?« erkundigte sich Irene neugierig.
Der Kapitän nickte.
»Es ist ein scheußlicher Anblick. Die Haut - sie scheint mit den Knochen verschmolzen zu sein. Ich weiß, daß es Unsinn ist, aber so sieht es aus. Als hätte jemand Salzsäure über das Gesicht geschüttet und alles weggeätzt, was auch nur entfernt menschlich war. Nur das rote Haar scheint unberührt geblieben zu sein. Aber sonst ist sie stark entstellt, vielleicht am ganzen Körper. Zumindest die Beine sehen so aus wie das Gesicht. Die Haut ist.«
Er brach ab, als er Irenes bestürzten, bleichen Gesichtsausdruck bemerkte.
»Verzeiht, Freunde, ich wollte euch nicht erschrecken. Ich denke auch, meine Beschreibung genügt.«
»Das tut sie«, versicherte Jacob. »Mich konnten Sie übrigens gar nicht erschrecken. Ich habe das Gesicht der Frau schon auf Deck gesehen, kurz bevor sie auf mich schoß.«
»Stimmt ja«, nickte der Kapitän, der die Szene hilflos mitangesehen hatte. »Ich möchte wissen, was mit der Frau geschehen ist. Und natürlich auch, mit wem wir es überhaupt zu tun haben. Mir hat sie es jedenfalls nicht gesagt.«
»Ich kenne sie«, sagte Jacob und blickte die junge Frau an. »Du übrigens auch, Irene.«
»Ja, das Gefühl hatte ich auch. Allerdings komme ich nicht darauf, wer sie ist.«
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