J. Kastner - Der Hai von Frisco

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Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben an Hunger und Epidemien.
In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort der Hoffnung und Sehnsucht - ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus Deutschland fliehen muss.
Doch sein Leben in Amerika wird härter und gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob Adler, wie es kaum ein zweiter je erlebt hat...

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Kanonendonner und Pulverdampf. Dicke Rauchfahnen aus hohen Schornsteinen und im Wind knatternde Segel. Hektisch ausgestoßene Kommandos und panische Schreie.

Im Pazifischen Ozean, einige Meilen vor der Westküste des nordamerikanischen Kontinents, war die Hölle ausgebrochen. Mochte das hellgraue Meer auch weithin friedlich unter dem dunklen Wolkenhimmel liegen, auf einem kleinen Flecken Wasser tobte ein Kampf ums Überleben.

Das Schicksal hatte die Karten ungleich verteilt. Ein unbewaffnetes Segelschiff floh vor drei Dampfern - bewaffneten Dampfern.

Es waren Kriegsschiffe der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein großer Raddampfer und zwei zu Schrauben-Fregatten umgebaute Kauffahrer, eine Bark und eine Brigg.

Sie hatten den Segler so gut wie umzingelt. Immer wieder spuckten ihre Geschütze Feuer, Rauch und tödliche Geschosse aus.

Nur durch waghalsige Manöver gelang es dem Kapitän des Seglers, schwere Schäden zu vermeiden. Das Gaffelsegel am Besanmast war bereits von einer Kartätsche zerfetzt worden.

Der Dreimaster war die ALBANY unter Kapitän Piet Hansen. Vorgeblich mit einer großen Ladung Minengeräten und ein paar Glücksrittern, die so schnell wie möglich zu den kalifornischen Goldfeldern wollten, unterwegs nach San Francisco.

In Wahrheit ein Blockadebrecher, der die Seeblockade der Nordstaaten durchbrechen wollte, um an der Küste Mexikos zu ankern und Kriegsgut für die Konföderierten Staaten an Land zu bringen, das dann durch Nordmexiko nach Texas gebracht werden sollte.

Aber der Plan war aufgeflogen. Das kleine US-Geschwader war nach einer siebentägigen Seereise der ALBANY wie aus heiterem Himmel aufgetaucht und hatte den Segler unter Beschuß genommen, als dieser nicht beidrehte, um ein Prisenkommando an Bord zu nehmen.

Daß die ALBANY bei den waghalsigen Manövern nicht kenterte, schien an ein Wunder zu grenzen, war in Wahrheit aber dem erfahrenen Seebären Piet Hansen zu verdanken, der das Steuerrad führte, als sei er selbst ein Teil des hölzernen Schiffskörpers.

Die hektischen Haken, die der Kapitän der ALBANY seiner schlanken Bark aufzwang, brachten an Bord alles in Unordnung, was nicht niet- und nagelfest war oder nicht von Jugend an auf schwankenden Schiffsplanken stand.

Zwei Menschen klammerten sich an der Steuerbordreling fest, ein Mann und eine Frau.

Der hünenhafte Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem goldenen Ring im rechten Ohr war der deutsche Auswanderer Jacob Adler.

Die Frau, die durch Hansens Manöver in seine Nähe gerutscht war, hatte ihr Gesicht während der ganzen Schiffsreise unter einem Schleier verborgen gehalten. Der Schleier war so schwarz wie alles an ihr: vom Hut und Haarnetz über das Kleid bis zu den Handschuhen.

Vergeblich hatte Jacob darüber nachgegrübelt, woher er die mysteriöse Frau zu kennen glaubte. Bis ihm eben die lange gesuchte Erkenntnis gekommen war.

Durch den Sturz waren Hut, Schleier und Haarnetz vom Kopf der Frau gerutscht. Was er sah, bestätigte Jacobs Vermutung.

Und doch war es ein anderer Anblick als erwartet. Was da von feuerroten Locken umspielt wurde, war nicht das Gesicht einer schönen Frau, das er zu sehen erwartet hatte. Es war eine häßliche Karikatur, furcht- und mitleiderregend zugleich.

»Wie... ist das...«, setzte der junge Zimmermann an, als er die erste Überraschung verdaut hatte.

Aber die Frage blieb ihm im Hals stecken. Wie konnte man über dieses Grauen reden, das einem schon beim bloßen Anblick die Sprache verschlug?

»Was glotzen Sie, Adler?« fragte das schrecklich entstellte Wesen, das einmal eine schöne, begehrenswerte Frau gewesen war. »Sie haben mich wohl anders in Erinnerung, was? Ist kein schöner Anblick, ich weiß. Aber Sie sind nicht ganz unschuldig daran. Trotzdem will ich Ihnen ersparen, mich weiter anstarren zu müssen!«

Ihre Rechte ruckte vor. Jetzt erst bemerkte Jacob, daß sie noch immer den vierläufigen Sharps Derringer in der Hand hielt.

Er hatte geglaubt, sie hätte die Taschenpistole verloren, als sie stürzte und über die gischtbesprühten, glitschigen Planken rutschte.

Er wollte vorspringen und ihr die Waffe entreißen. Aber gerade in diesem Augenblick ließ Piet Hansen die ALBANY einen erneuten Haken schlagen, den manch anderer Kapitän sogar mit einem kleineren, wendigeren Schiff nicht hinbekommen hätte. Dadurch wurde Jacob wieder gegen die Reling geschleudert.

Er konnte nichts tun. Nur zusehen, wie sich der im schwarzen Handschuhleder steckende Zeigefinger um den Abzug krümmte. Ein Feuerstrahl schlug aus der Mündung.

Ein absonderlicher, in diesem Moment völlig unbedeutender Gedanke schoß durch Jacobs Kopf: Die Mündungsflamme war für die kleine Waffe ungewöhnlich groß.

Jacob spürte einen Schlag am Kopf, als hätte ihn ein Vorschlaghammer getroffen. Dem stechenden Schmerz folgte gnädige, alles verschlingende Dunkelheit, die sich wie ein plötzlich herabfallendes Tuch über seine Augen und sämtliche Sinne legte. Es war die Finsternis des Vergessens.

»Jacob, neeeiiin!«

Irene Sommer stieß den markerschütternden Schrei aus, als der Schuß krachte.

Die junge Deutsche, die ihren kleinen Sohn Jamie in den Armen hielt, sah, wie Jacob mit dem Rücken an der Reling nach unten rutschte. Sein blutüberströmter Kopf schlug auf die nassen Planken. Dann bewegte sich der junge Mann, den sie heimlich so sehr liebte, nicht mehr.

Aber die Blutlache um seinen Kopf vergrößerte sich. Bis die ALBANY eine Welle durchschnitt und ein großer Brecher mit seiner salzigen Flut das Blut wegwusch.

Irene wollte zu dem Geliebten laufen, aber Joe Weisman hielt sie mit eiserner Klaue fest.

»Nicht, Lady!« schrie der Zweite Steuermann der ALBANY gegen den Lärm an, der aus Kanonendonner, gegen die Rahen klatschenden Segeln, unter der Last ächzenden Planken und aufgeregtem Gebrüll bestand. »Denken Sie an das Kind!«

Der gedrungene Deutsch-Amerikaner hielt sich mit einer Hand an einem der Pfosten fest, die das Dach über dem Platz des Steuermanns trugen. Die andere Hand hielt Irene und verhinderte, daß Mutter und Kind zu hilflosen Spielbällen des auf und nieder stampfenden, von einer Seite zur anderen rollenden Schiffes wurden. Vor Anstrengung tanzten dunkle Flecken pochenden Blutes auf seinem sonst nur leicht geröteten Gesicht.

Traurig erkannte die Frau, daß er recht hatte. Als Mutter war es ihre erste Pflicht, für Jamies Wohlergehen und Sicherheit zu sorgen.

Und Jacob?

Es sah ganz so aus, als könne sie nichts mehr für ihn tun. Sie nicht und kein anderer Mensch auf dieser Welt. Der Schuß aus nächster Nähe hatte ihn in den Kopf getroffen.

Er mußte tot sein!

Die Erkenntnis zog alle Kraft aus Irenes Beinen. Auch Weisman konnte sie nicht mehr halten und ließ sie sanft zu Boden gleiten.

Er zeigte auf die Pfosten des Unterstands und rief: »Halten Sie sich daran fest, Lady!«

Irene nickte und krallte mit letzter Kraft ihre Hände um einen der Pfosten, während sie Jamie in ihre Arme schloß.

»Geht es?« fragte der Zweite Steuermann.

Wieder bestand Irenes Antwort nur in einem schwachen Nicken. Zu mehr fühlte sie sich nicht in der Lage.

Der Gedanke an Jacobs Tod lähmte sie, ließ alles plötzlich so sinnlos erscheinen.

Vielleicht hätte sie den hölzernen Pfosten losgelassen und sich von einem der über die Reling schwappenden Brecher mit ins Meer reißen lassen, wäre der laut schreiende Junge nicht gewesen.

Nur kurz streifte Piet Hansens Blick von Jacob Adler zu Irene Sommer. Er fühlte Mitleid und Schuld, aber er hatte keine Zeit, sich um die junge Frau zu kümmern.

Wenn er sich ablenken ließ, konnte das den Tod für alle anderen Menschen an Bord bedeuten. Er hätte nicht gedacht, daß die Yankees ein unbewaffnetes Schiff derart hemmungslos unter Beschuß nehmen würden. Offenbar war es ihnen bluternst mit ihrer Seeblockade der Südstaaten.

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