»Das weiß ich nicht, wirklich.« Der Kapitän legte eine Hand auf Irenes Schulter. »Alle anderen Fragen müssen warten, Mädchen. Ich muß an Deck. Paß gut auf Jacob auf. Und sieh zu, daß Möller und seine Männer nicht mitbekommen, wie lebendig er ist!«
Wie zur Bestätigung von Hansens Worten wälzte sich Jacob herum und stieß einen tiefes Stöhnen aus.
Sofort wanderten Irenes Augen durch das Zwischendeck. Zum Glück war niemand sonst in der Nähe.
Auch wenn Jacobs Stöhnen verräterisch sein konnte, sie freute sich darüber.
Über jedes Lebenszeichen, das er von sich gab!
»Ich lasse von mir hören«, versprach Hansen und entfernte sich.
Irene sah, wie er die schmale Treppe hinaufstieg.
Ihre Welt bestand aus dem Halbdunkel einer fernen Öllampe, aus Jacobs schwachem Atmen und seinem gelegentlichen Stöhnen und aus Jamies leisem Wimmern.
Sie drückte ihr Kind an sich, strich über das kleine Köpfchen mit dem immer dichter werdenden Haar und sagte sanft: »Armer kleiner Jamie. Was du schon alles erleben mußtest. Ich hoffe, daß du noch nicht viel von all dem mitbekommst!«
Und sie wünschte, daß es für sie selbst so wäre.
*
Als Piet Hansen wieder an Deck kam, hatte sich der Nebel größtenteils gelichtet.
Besser ausgedrückt, er war gelichtet worden. Und zwar durch den Sturmwind, der die Segel aufblähte und die Bark nach Norden hetzte.
»Möller hat unten alles unter Kontrolle«, sagte Hansen zu Schelp, der bei Joe Weisman am Ruder stand.
Der Zweite Steuermann gab sich unbeteiligt. Aber sein verbissenes Gesicht und die düsteren Blicke, die er seinem Kapitän dann zuwarf, wenn er sich unbeobachtet glaubte, verrieten, was er von Hansen hielt: nichts Gutes.
Die geheimnisvolle Frau und ihre beiden Begleiter standen in der Nähe an der Steuerbordreling und unterhielten sich leise. Immer wieder blickte sie aufs Meer hinaus. Am Horizont tauchte verschwommen ein dunkler Strich auf.
Don Emiliano löste sich von der Gruppe und trat zum Platz des Steuermanns.
»Ich müßte mich sehr täuschen, wenn das da drüben nicht die Küste von Mexiko ist«, sagte er in seinem spanisch gefärbten Englisch.
»Es ist die Südspitze Kaliforniens«, erwiderte Hansen.
»Das ist dasselbe«, fauchte der Mexikaner. »Wir nennen es Baja California. Und wenn es das ist, dann fahren wir schon seit einiger Zeit nach Norden. Dahin zurück, von wo wir gekommen sind. Können Sie mir das erklären, Capitän?«
Don Emilianos Hand schwebte wie zufällig über der rechten Außentasche seines blauen Samtrocks. Die Tasche war stark ausgebeult. Und daß er die Hand ausgerechnet dort hatte, war bestimmt kein Zufall. Schuld an der Ausbeulung war der LeMat-Revolver.
»Aber gern.« Hansen zwang sich zu einem Lächeln. »Wir fahren nach Norden, weil ein günstiger Wind in diese Richtung weht.«
Daß diese Antwort den Mexikaner nicht zufriedenstellte, verriet das erregte Zucken seiner von einem tief schwarzen Bart umfaßten Mundwinkel. Seine Hand näherte sich noch weiter der ausgebeulten Tasche.
»Unser Ziel liegt aber nicht im Norden, sondern im Süden!« entgegnete er scharf.
»Sie irren sich, Senor«, blieb Hansen gelassen. »Unser Ziel liegt nicht im Süden.«
Der Sonderbeauftragte der mexikanischen Exilregierung legte die olivenfarbene Haut auf seiner Stirn in tiefe Falten.
»Senor Capitän, was soll das bedeuten? Ich bin zu Scherzen jetzt nicht aufgelegt. Natürlich müssen wir nach Süden fahren!«
»Ja, das müssen wir«, gab der alte Seebär zu. »Aber unser Ziel liegt im Osten. Sie selbst haben doch im Grand Hotel von Fogerty erklärt, daß wir unsere Fracht in einer Bucht südlich von Guaymas löschen sollen. Nun, wir befinden uns ziemlich genau auf der Höhe von Guaymas, wenn mich nicht alle nautischen Kenntnisse verlassen haben.«
»Das heißt, diese verwünschten Gringo-Schiffe haben uns vor der mexikanischen Küste angegriffen?« explodierte Don Emiliano. »Wo sie gar nichts zu suchen haben?«
»So sieht es aus«, bestätigte der Kapitän. »Aber sie hatten sehr wohl etwas hier zu suchen, nämlich uns.«
»Wie meinen Sie das, Käpten?« bellte Schelp, »Ich halte das plötzliche Auftauchen der kleinen Flottille nicht für einen Zufall«, erklärte Hansen. »Die Kriegsschiffe haben uns zweifellos gesucht. Sonst hätten sie uns nicht sofort bei ihrem Erscheinen zur Übergabe aufgefordert und so schnell das Feuer auf uns eröffnet.«
»Verflucht!« Schelp kratzte über sein rotes Haar. »Da ist was dran. Aber das bedeutet ja, daß uns jemand verraten hat!«
»Ja«, erwiderte Hansen nur.
»Aber wer?«
»Fragen Sie mich was Leichteres, Schelp«, seufzte der Kapitän. »Ich habe zur Zeit andere Probleme.«
»Si, Senor Capitän, die haben Sie«, nickte der Mexikaner mit noch immer umwölkter Stirn. »Nämlich unseren Kurs. Verkaufen Sie mich nicht länger für dumm! Auch wenn Sonora und Guaymas im Osten liegen, wir müssen nach Süden fahren, um ans Ziel zu kommen.«
»Das stimmt, Don Emiliano«, sagte Hansen. »Wir müssen die Südspitze von Baja California umsegeln, um in den Golf von Kalifornien zu gelangen.«
»Dann segeln Sie endlich nach Süden!« verlangte der Mexikaner sehr laut und sehr scharf. Offenbar war er mit seiner Geduld am Ende.
»Das wäre aber äußerst dumm«, entgegnete der Kapitän. »Damit rechnen die Kriegsschiffe doch. Sie werden uns dort auflauern.«
»Ah, ich verstehe«, nickte Schelp. »Deshalb der Nordkurs.«
»Ja, deshalb«, bekräftigte Hansen.
Schelps offensichtliche Freude über sein Begreifen verflog ebenso schnell wieder, wie sie sein Gesicht aufgehellt hatte. Mit einem fast ebenso skeptischen Blick wie Don Emiliano sagte er: »Aber wir können nicht ewig so weitermachen, Käpten. Was tun wir, wenn die Yankee-Schiffe im Süden bleiben, wovon wir leider ausgehen müssen? Bis zum Nordpol fahren?«
»Dafür sind wir nicht ausgerüstet«, versetzte Hansen trocken. »Nein, natürlich können wir nicht immer weiter nach Norden fahren. Wir müssen uns an den Kriegsschiffen vorbeischleichen. Aber ich denke, wir sollten damit warten, bis es dunkel ist.«
Ein breites Grinsen überzog Schelps derbes Gesicht. Er versetzte Hansen einen zustimmenden Schlag auf die Schulter.
»Ja, das ist ein guter Plan, Käpten. Genauso machen wir es. Sobald es Nacht ist, ändert die ALBANY ihren Kurs um hundertachtzig Grad und gleitet unbemerkt an den Yankees vorbei. Wunderbar!«
»Si, es könnte funktionieren«, meinte auch Don Emiliano und ging zurück zur Reling, um Captain McCord und die verschleierte Frau zu informieren.
Obwohl Piet Hansen ihr Gesicht nicht sehen konnte, hätte er schwören mögen, daß sie ihm einen durchdringenden Blick zuwarf. Bei dem Gedanken überfiel ihn ein eisiges Frösteln.
*
Es mußte Nacht sein, dachte Irene. Sie erkannte es nur an der offenen Eingangstür oberhalb der Treppe. Kein bißchen Licht drang durch sie ins Halbdunkel des Schiffes.
Die blonde Frau legte eine Hand auf Jacobs Mund, um sein jetzt fast pausenloses Stöhnen zu dämpfen.
Wenn die Wachablösung erfuhr, daß der junge Deutsche noch am Leben war, und es der unheimlichen Frau in Schwarz berichtete, konnten Irenes sämtliche Mühen um Jacob sehr schnell zunichte gemacht werden.
Rasch zog sie ihren provisorischen Verband von seinem Kopf und versteckte das blutgetränkte Tuch unter ihrem graubraunen Baumwollkleid.
Leider konnte sie dem Freund nicht sagen, er solle sich still verhalten. Er würde sie nicht verstehen; vielleicht hörte er sie nicht einmal. Er dämmerte in einem Zustand zwischen Bewußtlosigkeit und Wachsein dahin, aber noch blieb jede Erkenntnis seinem Geist verschlossen.
Die Wunde war ziemlich schlimm, obgleich es nur ein Streifschuß war. Das verfluchte Weichbleigeschoß aus dem Derringer dieser verfluchten schwarzen Frau !
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