»Denk an den Ohio River und an unsere Fahrt auf der ONTARIO!«
»O Gott!« Irene schlug die Hände vor ihr schönes, noch jugendlich glattes Gesicht. »Willst du damit sagen, daß.« Dann nickte sie. »Ja, natürlich, sie ist es. Das rote Haar, die Stimme. Es ist Vivian Marquand!«
»Ihr beide kennt sie?« fragte der Kapitän verwundert. »Vom Ohio River? Klingt so, als hättet ihr eine Menge erlebt, seit ihr die ALBANY in New York verlassen habt.«
»Das kann man wohl sagen«, lachte Jacob auf, als er an die mannigfachen Abenteuer dachte, die hinter ihm und Irene lagen. Schon in New York City hatten sie begonnen und waren zu verläßlichen Begleitern der beiden Deutschen bei ihrer Reise quer durch den nordamerikanischen Kontinent geworden.
Dann erzählte er Piet Hansen davon, wie Vivian Marquand, die mit ihrem Mann Alec eine Frachtagentur in Pittsburgh betrieben hatte, ihn und seinen Freund Martin Bauer als Frachtbegleiter anheuerte. Zusammen mit Irene und dem kleinen Jamie waren sie auf dem Schaufelraddampfer ONTARIO den Ohio River hinuntergefahren. Bis sie feststellen mußten, daß die begleitete Fracht nicht aus Konserven bestand, sondern aus Revolverkanonen. Vivian Marquand war eine Agentin der Konföderierten und wollte die Waffen zu der von den Nordstaatlern eingeschlossenen Stadt Vicksburg bringen.
»Dann ist sie ihrem Metier ja treu geblieben«, brummte Hansen und genehmigte sich noch einen Schluck des veredelten Kaffees. »Was geschah dann?«
»Eine Menge«, antwortete Jacob und berichtete von dem schurkischen Max Quidor, dessen unangenehme Bekanntschaft Jacob und seine Freunde bereits in New York City gemacht hatten. Dort raubte Quidor den kleinen Jamie und wollte sich Irene gefügig machen.
»Auf dem Ohio haben wir Quidor wiedergetroffen«, fuhr der Zimmermann fort. »Er war der Organisator des Waffenschmuggels. Ein Dampfer der US-Marine schoß die von Quidors Männern besetzte ONTARIO in Brand. Die Ladung explodierte. Quidor hätte Irene, Martin und mich umgebracht.«
»Und?« fragte Hansen gespannt. »Was ist passiert?«
»Vivian Marquand tauchte auf und schoß Quidor in den Rücken. Er fiel in den Fluß.«
»Diese Frau hat euch gerettet?« meinte der ungläubige Kapitän. »Warum?«
»Wegen ihres Sohns George, sagte sie. Ihr Junge starb, als die Yankees zur Plantage der Marquands kamen und daraufhin die Negersklaven rebellierten. Sie wollte nicht, daß Jamie ein ähnliches Schicksal ereilte. Deshalb schoß sie auf Quidor. Dann starb sie selbst - jedenfalls glaubten wir das. Alles brach auf der ONTARIO auseinander. In dem Wirrwarr stürzte die Frau über Bord. Da sie von den Suchtrupps nicht gefunden wurde, hielten wir sie für tot. Der Ohio konnte ihre Leiche sonstwohin gespült haben.«
»Wirklich eine abenteuerliche Geschichte«, murmelte Piet Hansen und wurde sich dann erst bewußt, daß die Geschichte, in die sie alle zur Zeit verwickelt waren, kaum weniger abenteuerlich war. »Aber eins verstehe ich nicht: Wenn diese Mrs. Marquand euch damals geholfen hat, warum wollte sie dich vor ein paar Stunden umbringen, Junge?«
»Eine gute Frage«, seufzte Jacob. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Erst glaubte ich, sie wollte nicht, daß man sie erkennt. Vielleicht war es tatsächlich auslösend für den Schuß auf mich, daß ich ihr entstelltes Gesicht sah. Ich würde auch nicht wollen, daß mich jemand so sieht. Aber ich glaube, daß da noch mehr ist. Sie scheint mich aus tiefster Seele zu hassen. Möglich, daß es mit ihrer Entstellung zusammenhängt.«
Irene bohrte ihren Blick in Jacobs Gesicht und fragte: »Woran denkst du?«
»An die Explosionen, die damals die ONTARIO geradezu in Stücke rissen. Überall waren Flammen. Wären wir nicht rechtzeitig in den Fluß gesprungen, wären wir elend verbrannt. Was ist, wenn Mrs. Marquand nicht solches Glück hatte?«
»Aber ich denke, sie ist ins Wasser gestürzt«, wandte Hansen ein.
»Schon wahr«, sagte Jacob. »Aber gleichwohl könnte sie unter die brennenden Trümmer des Dampfers geraten sein. Vielleicht wurde sie nicht durch Säure so entstellt, sondern durch Feuer!«
»Ja, das wäre möglich«, meinte Irene leise.
»Fragen wir sie doch einfach!« schlug Hansen vor. »Das Essen ist eh noch nicht fertig.« »Geht nur«, nickte Irene. »Ich bleibe bei Jamie.« »Einverstanden«, sagte Jacob zu dem Kapitän. Der junge Auswanderer war begierig, mehr über Vivian Marquands Schicksal zu erfahren.
*
Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza war der erste, der die eintönige Geräuschkulisse der gegen den Schiffsrumpf schlagenden Wellen übertönte: »Das alles ist ganz allein Ihre Schuld, Senor Schelp! Sie haben diesen Capitän Hansen angeschleppt, der uns hier eingewickelt hat wie gefangene Fische. Dafür wird meine Regierung Sie zur Verantwortung ziehen!«
Trotz der trüben Lage zauberte Arnold Schelp zur allgemeinen Verwunderung der anderen Gefangenen ein breites Grinsen auf sein Gesicht.
»Erstens existiert Ihre Regierung nur auf dem Papier, Don Emiliano. In Mexiko gibt es im Augenblick wohl nur zwei Parteien, die etwas zu sagen haben: die Franzosen und die Anhänger von Benito Juarez.« Er achtete nicht auf den protestierenden Gesichtsausdruck des Mexikaners und fuhr fort: »Zweitens dürfte es, wie es jetzt aussieht, eher die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika sein, die mich zur Verantwortung zieht. Und nicht nur mich, sondern uns alle, Sie eingeschlossen, Hidalgo.«
Mit voller Absicht verzichtete Schelp auf das förmliche >Don Emilianoc. Er wollte dem hochnäsigen Mexikaner bewußt machen, daß sie alle in einem Boot saßen - oder in einem Schiff lagen, was in diesem Fall aufs selbe herauskam.
»Mich bestimmt nicht«, zischte der Mexikaner. »Als Sonderbeauftragter der mexikanischen Exilregierung genieße ich diplomatische Immunität!«
Wieder grinste Schelp.
»Ich glaube nicht, daß sich die Yankees davon beeindrucken lassen, Senor. Schließlich steht Mr. Lincoln eher auf der Seite von Juarez. Und Lincoln ist nicht erbaut über die europäische Einmischung, die Ihre sogenannte Exilregierung nach Mexiko gebracht hat. Außerdem fackeln die Nordstaatler nicht lange mit Spionen, Saboteuren und Blockadebrechern. Ich könnte mir gut vorstellen, daß Ihre diplomatische Immunität vor einem Erschießungskommando endet!«
»Das alles ist nur Ihre Schuld!« keifte Don Emiliano, trotzig wie ein kleines Kind. Aber er konnte damit nicht übertünchen, daß die Worte des Deutschen ihm Angst gemacht hatten.
Schelp, der ihn genau beobachtete, fühlte sich bei dieser Erkenntnis befriedigt.
Der Deutsche kam aus einfachen Verhältnissen und hatte sich immer weiter nach oben durchgekämpft. Er haßte alle hochwohlgeborenen Herren und Damen, die auf Männer wie ihn voller Abscheu herabblickten, falls sie ihn denn überhaupt zur Kenntnis zu nehmen pflegten. Jedesmal, wenn er einem adligen Fatzken eins auswischen konnte, war es ihm eine besondere Genugtuung, selbst in dieser bescheidenen Lage.
Die Frau in Schwarz - Vivian Marquand, die sich zur Tarnung Vivian Smith genannt hatte - hatte sich wieder in der Gewalt. Als sie jetzt sprach, klang ihre Stimme fast so kühl und gefühllos wie stets. Fast - denn ein Vorwurf war unüberhörbar:
»Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, bringt uns das nicht weiter! Wir sollten lieber gemeinsam nach einem Ausweg suchen. Und zwar schnell, bevor wir San Francisco erreichen!«
»Ganz Ihrer Meinung, Lady«, erwiderte Schelp. Er ignorierte den Vorwurf und sprach ganz so, als handle es sich bei der Suche nach einem Ausweg um eine bloße Formsache.
»Sie scheinen ja sehr zuversichtlich zu sein, daß uns rechtzeitig etwas einfällt«, bemerkte die Frau.
»Das brauche ich gar nicht, Madam, denn mir ist schon etwas eingefallen.«
»Was?«
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