«Ich musste sogar diesen Kretin an den Tisch holen, um überhaupt spielen zu können», erklärt sie und meint offensichtlich den Barkeeper, der ihre Beleidigung aber nicht verstanden hat, denn sein Gesichtsausdruck ist so trüb wie immer. Sie drückt dem Kerl ein paar Jetons in die Hand. «Thank you very much. And would you be so kind to bring me another brandy?»
Der Barkeeper macht sich rasch davon.
«Habe die Ehre, gnädige Frau.» Albert Reiter begrüßt die Dame mit einem Handkuss.
Weil ich nicht unhöflich sein möchte, schließe ich mich an. «Jakob Jakobi.»
«Dr. Jakob Jakobi», ergänzt Reiter. «So viel Zeit muss sein, Herr Kollege.»
«Anastasia von Haffenberg», erwidert sie. «Aber lassen Sie uns nicht zu viel Zeit mit Formalitäten verplempern. Ich möchte lieber spielen.»
Reiter nickt. Der Wunsch einer Dame ist ihm Befehl. Also setzen wir uns, und Frantisek teilt aus.
«Sie haben Glück, dass wir so früh gekommen sind», sagt Reiter nach einer Weile. «Wäre die Zaubershow nicht katastrophal langweilig gewesen, dann hätten wir uns wahrscheinlich das ganze Programm angesehen.»
«Das war mir vorher klar», entgegnet Anastasia. «Ich kenne den Zauberer aus Madrid und finde ihn gänzlich unbegabt. Wussten Sie, dass er sich ernsthaft für den wiedergeborenen Buatier de Kolta hält?»
Ich merke auf. Einen Wiedergeborenen wähne ich auch hier am Tisch.
«Dann ist er also nicht nur unbegabt, sondern obendrein ein Spinner», bemerkt Reiter.
Frau von Haffenberg lächelt milde und schweigt. Sie ist gerade damit beschäftigt, ihr Blatt zu teilen.
«Glauben Sie an Reinkarnation?», frage ich beiläufig.
«Also ich nicht», erwidert die alte Dame. «Ich finde es tröstlich, dass das ganze Elend hier irgendwann mal ein Ende hat.»
«Geht mir ähnlich», stimmt mein Wiener Kollege zu. «Außerdem stehe ich als Wissenschaftler solchen Dingen ohnehin eher skeptisch gegenüber.»
«Das war bei mir genauso», sage ich. «Bis ich Gott getroffen habe.»
Reiter, der gerade im Begriff ist, eine neue Karte zu ordern, hält inne. «Nanu. Was kommt jetzt? Eine Erweckungsgeschichte?»
«Einer meiner Patienten hielt sich für Gott ...»
«Oh! Interessanter Fall», wirft Reiter ein, während Frantisek mit gleichgültiger Miene den neuerlichen Sieg der Bank verkündet: «Black Jack.»
«Er hat leider vor einer Weile das Zeitliche gesegnet ...», fahre ich fort.
«Oh? Gott ist tot? Wie das?», wirft Reiter amüsiert ein.
«Mein Patient ist tot», korrigiere ich sachlich. «Aber ich gebe zu, er hat mich zuvor davon überzeugt, dass er Gott war.»
Die Köpfe meiner beiden Mitspieler drehen sich synchron zu mir.
«Es stimmt», sage ich und nicke nachdrücklich. «Es klingt verrückt, aber ich bin sicher, dass ich Gott habe sterben sehen. Glücklicherweise spricht einiges dafür, dass er wiedergeboren wurde.»
«Sie meinen, dem Grab entstiegen?», wirft Reiter erneut ein.
«Nein, das nicht», erkläre ich. «Ich vermute, er wird in einem Menschen wiedergeboren. Es ist so eine Art Seelenwanderung.»
«Das klingt wirklich ein bisschen verrückt», bemerkt die alte Dame.
«Und es wird noch viel verrückter», fahre ich fort. «Ich glaube nämlich, dass mein Wiener Kollege die Reinkarnation Gottes ist. Nein, ich glaube es nicht nur, ich würde sogar darauf wetten, dass er noch vor ein paar Tagen Abel Baumann war.»
Stille. Frantisek blickt irritiert in die Runde. Er hat das Spiel unterbrochen, denn ihm ist aufgefallen, dass gerade eine seltsame Stimmung herrscht.
Reiter mustert mich aufmerksam.
«Sie haben einen seltsamen Humor», höre ich Anastasia sagen.
Immer noch schaut Reiter mich an.
«Man hat mir gesagt, dass ich diese Reise als einen Wink Gottes begreifen soll», sage ich. «Und? Haben Sie mir ein Zeichen gegeben, Professor?»
Reiter runzelt die Stirn. «Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen, Dr. Jakobi.» Er steigt vom Hocker, nimmt sein Sakko und zieht es über. «Sie entschuldigen, aber ich bin im Urlaub. Ich habe tagtäglich mit Verrückten zu tun. Wenigstens in den Ferien möchte ich normale Gespräche mit normalen Leuten führen. Adieu.» Er nickt mir zu, haucht Frau von Haffenberg einen Kuss auf den Handrücken und geht rasch davon.
Die alte Dame wartet einen Moment, dann fragt sie: «Möchten Sie Gott hinterherlaufen, oder spielen wir noch eine Runde? Ich persönlich habe ja nichts gegen Verrückte.»
Ich überlege, ob ich Reiter tatsächlich folgen soll. Seine ebenso ehrliche wie schroffe Reaktion hält mich davon ab. Ich habe mich offenbar geirrt.
Schon will ich mich wieder dem Spiel zuwenden, da fällt mir etwas auf. «Wieso kennen Sie eigentlich diesen Zauberer?», frage ich Anastasia. «Und woher wissen Sie von der Sache mit der Reinkarnation Buatier de Koltas?»
Sie sieht mich prüfend an. «Sie werden es nicht glauben, aber ich kenne sogar einen Abel Baumann. Sicher ein Zufall. Ich vermute, den Namen gibt es tausendfach.»
«Ich meine einen Zirkusclown, der in Wahrheit ein großer Zauberer war.»
Sie zieht an ihrer Zigarettenspitze. «Dann meinen wir doch den gleichen.»
Der Satz hallt nach. Schweigen. «Schade, dass er tot ist. Ich kannte ihn nicht sehr gut. Außerdem ist das schon eine Ewigkeit her. Ich habe früher einen Zirkus besessen», sagt sie und leert ihren Brandy in einem Zug. «Ich befürchte, damit passe ich ganz gut in Ihre seltsame Theorie, oder? Vielleicht bin ich ja ... Gott.»
Ich starre sie an. Anastasia nimmt ihre Handtasche und erhebt sich. Sie wirkt verärgert, dass das Spiel diese Wendung genommen hat. «Entschuldigen Sie, Dr. Jakobi, aber jetzt reicht es mir ebenfalls.
Vielleicht machen Sie einfach mal einen Termin bei Ihrem Kollegen aus Wien.»
Sie schreitet davon.
Ich merke, dass meine Schultern nach unten sacken. Peinliche Nummer, die ich hier gerade abgezogen habe. Wirklich peinlich.
Frantisek steht unbeweglich da. «Sorry, Sir. Minimum two players.» Er schaut auf meine Jetons und wartet, dass ich sie an mich nehme, damit er den Tisch schließen kann.
Ich nehme die Jetons, Frantisek lässt ein weißes Tuch über den Tisch gleiten. Fast im gleichen Moment ist das dumpfe Geräusch einer fernen Explosion zu hören, und es geht ein Ruck durch das Schiff, der mich vom Hocker haut. Das Tuch rutscht herunter, in der Bar klirren Flaschen und Gläser. Der dösende Barmann wird ebenfalls zu Boden gerissen. Frantisek kann sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Er wirkt besorgt und beeilt sich, mir zu helfen. «Are you hurt, Sir?»
Ich schüttele den Kopf. Frantisek hilft mir auf einen Stuhl. Dann eilt er davon, um nach dem Barmann zu sehen.
Irritiert schaue ich dem Croupier nach und erinnere mich dabei an Gottes Faible für Glücksspiele. Ist Frantisek vielleicht ...?
«Nein. Er ist es auch nicht», höre ich eine Stimme sagen.
Erschrocken schaue ich mich um, aber da ist niemand.
«Das ist aber jetzt auch nicht wichtig», fährt die Stimme fort. «Die Explosion hat ein Loch in die Außenwand gerissen. Vierzehn Decks tiefer sind mehr als zwanzig Leute in einem Mannschaftsraum eingeschlossen. Die Tür muss aufgestemmt werden. In nicht mal zehn Minuten wird der Eingang unter der Wasseroberfläche verschwunden sein.»
War das gerade etwa die Stimme von Abel? Ich rappele mich hoch und laufe zu den Fahrstühlen, vorbei an Frantisek und seinem Kollegen. Die beiden genehmigen sich hinter der Bar gerade einen Drink auf den Schreck.
Als der Fahrstuhl in die Tiefe rauscht, schlägt mein Herz bis zum Hals. Ist Gott etwa doch noch am Leben? Bevor ich mir die Absurdität dieses Gedankens vergegenwärtigen kann, öffnen sich die Fahrstuhltüren, und ich höre Stimmengewirr.
Der Gang vor mir hat eine deutliche Schräglage und liegt etwa zur Hälfte unter Wasser. Inmitten einer Gruppe aufgeregt diskutierender Filipinos erkenne ich meinen Wiener Kollegen Albert Reiter, der sich gerade die Hemdsärmel hochkrempelt.
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