Mark Twain
Ein Gespräch über die Welt und Gott
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Hans-Christian Oeser
Reclam
Englischer Originaltitel: What Is Man?
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: it’s me design
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961952-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014211-0
www.reclam.de
FEBRUAR 1905. Die Vorarbeiten zu dieser Abhandlung wurden vor fünfundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren begonnen. Die Abhandlung selbst wurde vor sieben Jahren verfasst. Seitdem habe ich sie ein- oder zweimal im Jahr geprüft und für überzeugend befunden. Eben erst habe ich sie abermals geprüft und bin nach wie vor davon überzeugt, dass sie die Wahrheit sagt.
Jeder Gedanke, den sie enthält, ist von Millionen und Abermillionen Menschen gedacht (und als unanfechtbare Wahrheit akzeptiert) worden – und er ist verheimlicht, verschwiegen worden. Weshalb haben sie nicht freiheraus gesprochen? Weil sie die Missbilligung der Leute um sich her fürchteten ( und nicht ertragen konnten ). Weshalb habe ich sie nicht veröffentlicht? Ich glaube, derselbe Grund hat auch mich davon abgehalten. Einen anderen kann ich nicht finden.
Was ist der Mensch?
I
a. Der Mensch, eine Maschine b. Persönliches Verdienst
[Der alte Mann und der junge Mann hatten sich unterhalten. Der alte Mann hatte behauptet, der Mensch sei nur eine Maschine und nichts weiter. Der junge Mann erhob Einspruch und bat ihn, Einzelheiten zu erläutern und seine Position zu begründen.]
ALTER MANN. Aus welchen Materialien wird eine Dampfmaschine gebaut?
JUNGER MANN. Aus Eisen, Stahl, Messing, Weißmetall und so fort.
A. M. Wo finden sich diese?
J. M. In Gestein.
A. M. In reinem Zustand?
J. M. Nein – in Erzen.
A. M. Werden die Metalle über Nacht in den Erzen abgelagert?
J. M. Nein – es ist die geduldige Arbeit ungezählter Zeitalter.
A. M. Könnte man die Maschine auch aus dem Gestein selbst fertigen?
J. M. Ja, aber nur eine zerbrechliche, keine sehr wertvolle.
A. M. Von einer solchen Maschine würde man nicht viel erwarten?
J. M. Nein – im Grunde genommen nichts.
A. M. Wie würde man vorgehen, um eine funktionstüchtige und leistungsfähige Maschine herzustellen?
J. M. Man würde Tunnel und Schächte in die Berge treiben; das Eisenerz heraussprengen; es zerkleinern, verhütten, zu Roheisen reduzieren; einen Teil davon dem Bessemerverfahren unterziehen und daraus Stahl erzeugen. Die unterschiedlichen Metalle, aus denen Messing hergestellt wird, würde man abbauen, weiterverarbeiten und legieren.
A. M. Und dann?
J. M. Aus dem Endresultat würde man die funktionstüchtige Maschine bauen.
A. M. Von der würden Sie viel erwarten?
J. M. O ja.
A. M. Sie könnte Drehbänke, Bohrer, Hobel, Schlagstempel und Schleifscheiben antreiben, kurzum, alle ausgeklügelten Geräte einer großen Fabrik?
J. M. So ist es.
A. M. Was könnte die Maschine aus Stein leisten?
J. M. Möglicherweise eine Nähmaschine antreiben – sonst vermutlich nichts.
A. M. Die andere Maschine würden die Menschen bewundern und begeistert loben?
J. M. Ja.
A. M. Aber nicht die aus Stein?
J. M. Nein.
A. M. Die Verdienste der Maschine aus Metall lägen weit über denen derjenigen aus Stein?
J. M. Selbstverständlich.
A. M. Die persönlichen Verdienste?
J. M. Die persönlichen Verdienste? Wie meinen Sie das?
A. M. Sie hätte einen persönlichen Anspruch auf Anerkennung ihrer Leistung?
J. M. Die Maschine? Natürlich nicht.
A. M. Warum nicht?
J. M. Weil ihre Leistung nicht persönlicher Natur ist. Sie ist Resultat des Gesetzes ihrer Konstruktion. Es ist kein Verdienst , dass sie die Dinge leistet, für die sie vorgesehen ist – sie kann nicht anders.
A. M. Und es ist nicht das persönliche Unverdienst der Maschine aus Stein, dass sie so wenig leistet?
J. M. Natürlich nicht. Sie leistet nicht mehr und nicht weniger, als was das Gesetz ihrer Machart ihr erlaubt und ihr abverlangt. Daran ist nichts Persönliches ; sie kann nicht wählen. Wollen Sie, wenn Sie sich so ›zu der Sache hinarbeiten‹, etwa auf die Behauptung hinaus, dass Mensch und Maschine annähernd dasselbe sind und dass in der Leistung keines von beiden ein persönliches Verdienst liegt?
A. M. Ja – aber seien Sie nicht gekränkt; ich will Sie nicht kränken. Worin besteht der große Unterschied zwischen der Maschine aus Stein und der Maschine aus Stahl? Sollen wir es Ausbildung nennen, oder Bildung? Sollen wir die Maschine aus Stein einen Wilden nennen und die aus Stahl einen zivilisierten Menschen? Das ursprüngliche Gestein enthielt das Material, aus dem die Maschine aus Stahl gebaut wurde – allerdings zusammen mit einer Menge Schwefel, Geröll und anderen hinderlichen angeborenen Erbanlagen, die vergangenen geologischen Zeitaltern entstammen – nennen wir sie Voreingenommenheiten. Voreingenommenheiten, die zu beseitigen nichts im Gestein selbst die Macht oder den Wunsch hatte. Wollen Sie diesen Satz zur Kenntnis nehmen?
J. M. Ja. Ich habe ihn aufgeschrieben: »Voreingenommenheiten, die zu beseitigen nichts im Gestein selbst die Macht oder den Wunsch hatte.« Fahren Sie fort.
A. M. Voreingenommenheiten, die durch äußere Einflüsse beseitigt werden müssen oder gar nicht. Notieren Sie das.
J. M. Wie Sie wünschen. »Die durch äußere Einflüsse beseitigt werden müssen oder gar nicht.« Fahren Sie fort.
A. M. Die Voreingenommenheit des Eisens gegen die Befreiung vom hemmenden Gestein. Genauer gesagt, die absolute Gleichgültigkeit des Eisens in Bezug darauf, ob das Gestein beseitigt wird oder nicht. Dann tritt ein äußerer Einfluss hinzu, zermahlt das Gestein zu Pulver und setzt das Erz frei. Das Eisen ist noch immer im Erz gefangen. Ein äußerer Einfluss schmilzt es aus dem hinderlichen Erz heraus. Jetzt ist das Eisen befreites Eisen, weiteren Fortschritten gegenüber jedoch gleichgültig. Ein äußerer Einfluss lockt es in den Bessemerofen und veredelt es zu Stahl von bester Qualität. Jetzt erst ist es gebildet – seine Ausbildung ist abgeschlossen. Und es ist an seine Grenzen gestoßen. Durch kein denkbares Verfahren kann es zu Gold gebildet werden. Wollen Sie das festhalten?
J. M. Ja. »Alles hat seine Grenzen – Eisenerz kann nicht zu Gold gebildet werden.«
A. M. Es gibt goldene Menschen und zinnerne Menschen und kupferne Menschen und bleierne Menschen und stählerne Menschen und so fort – und jeder von ihnen erfährt die Begrenztheit seiner Natur, seiner Erbanlagen, seiner Erziehung und seiner Umgebung. Aus jedem dieser Metalle kann man Maschinen bauen, und sie alle werden funktionieren, aber von den Schwachen darf man nicht erwarten, dass sie die gleiche Arbeit leisten wie die Starken. Um die besten Resultate zu erzielen, muss man das Metall in jedem Fall von seinen hinderlichen, schädlichen Erzen befreien – durch Bildung, durch Schmelzen, Veredeln und so fort.
J. M. Jetzt sind Sie beim Menschen angelangt?
A. M. Ja. Der Mensch, eine Maschine – der Mensch, eine unpersönliche Maschine. Was immer ein Mensch ist, verdankt sich seiner Machart und den Einflüssen , die dank seiner Erbanlagen, seinem Lebensraum und seinen Verbindungen auf sie einwirken. Er wird ausschließlich von äußeren Einflüssen bewegt, gelenkt, BEFEHLIGT. Nichts bringt er selbst hervor , nicht einmal einen Gedanken.
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