Als leichter Schneefall einsetzt, stehe ich auf. Ich habe meine letzten Tränen vergossen und meine letzten Hoffnungen auf ein kleines Zeichen Gottes zusammen mit Abel Baumann begraben. Jetzt ist mir kalt, ich bin müde und hungrig. Vielleicht werde ich mich auch besaufen, ich weiß es noch nicht so genau. In jedem Fall möchte ich nicht erleben, wie der Schnee diesen Ort in den Mantel des Vergessens hüllt. In weniger als einer Stunde wird man Abels Grab nicht mehr von all den anderen hier unterscheiden können. Der frische Schnee wird es so aussehen lassen, als wäre heute nicht einmal jemand hier gewesen.
Ich wandere eine Weile ziellos durch die Straßen, um einen Ort zu finden, an dem ich allein unter Menschen sein kann. Das ist nicht einfach, denn die meisten Bars und Restaurants sind ausgebucht. Und wer noch einen freien Tisch hat, gibt ihn nur ungern einem einzelnen Herrn, der nicht in Silvesterstimmung zu sein scheint. Da ich den Jahreswechsel nicht allein in Mutters viel zu großem Haus erleben möchte, komme ich auf die Idee, zu Freddys Pizzeria zu fahren. Der Laden ist in einem nicht sehr attraktiven Viertel und hat kaum Laufkundschaft. Außerdem hat Heinz mir gesagt, dass Freddys Frau eine miserable Köchin ist. Falls Freddys Pizzeria also Silvester geöffnet hat, könnte ich dort mit etwas Glück einen Platz finden.
Meine Kalkulation geht auf. Nur wenige Tische sind besetzt. Ich bestelle eine Flasche Rotwein und eine Pasta, die selbst Freddys Frau Valentina hinbekommen müsste.
Als ich meinen Blick durch das Lokal schweifen lasse, erkenne ich zu meinem Erstaunen jenes Paar wieder, dessen Hochzeitsfeier genau hier in einem Eklat endete. Offenbar haben die beiden sich versöhnt, denn sie wirken verliebt und glücklich. Und der schmächtige Bräutigam scheint sich auch von der Attacke auf seine Weichteile erholt zu haben. Er sitzt vor einer üppigen Portion Sahnetortellini und isst mit großem Appetit.
Der Rotwein, den Freddy mir kredenzt, ist ebenso passabel wie die Pasta seiner Frau. Da ich weniger erwartet habe, bin ich angenehm überrascht. Während ich esse, frage ich mich, wie es dem Brautpaar seit der Hochzeit ergangen sein mag, als plötzlich die Schwester der Braut erscheint. Sie begrüßt die beiden sehr herzlich, setzt sich dann dazu und bestellt ebenfalls etwas zu essen.
Ich bin erstaunt. Haben die drei sich etwa arrangiert? Am Tag der Hochzeit sah es so aus, als hätte das Liebesgeständnis der Schwester die junge Ehe schlicht ausradiert. Heute könnte man denken, dass die beiden Frauen sich den Mann geschwisterlich teilen.
Ich lege das Besteck beiseite, lehne mich zurück und denke an den Abend der Hochzeitsfeier zurück. Damals habe ich Abel für einen Clown mit psychischen Problemen gehalten. Heute glaube ich: Mir ist Gott begegnet. Er ist fehlerhaft. Er ist schwach und machtlos. Vielleicht ist er nur ein Gedanke aus einer anderen Zeit. Oder aus einer anderen Welt. Trotzdem habe ich diesen Gedanken für mich entdeckt. Jetzt ist er da. Und zu meinem eigenen Erstaunen kann ich Gott nun nicht mehr wegdenken.
Freddy kommt an meinen Tisch. «Noch alles okay bei Ihnen?»
«Danke», erwidere ich und blicke immer noch grübelnd zu den dreien.
«Kennen Sie die Herrschaften?», fragt Freddy.
«Ich war zufällig hier, als die Hochzeitsfeier aus dem Ruder lief», erwidere ich. «Und jetzt wundere ich mich ein bisschen.»
«Ja. Das ist in der Tat eine verrückte Geschichte», sagt Freddy und fügt vertraulich hinzu: «Möchten Sie sie hören?»
Ich sehe ihn an, und während ich noch über meine Antwort nachdenke, höre ich mich sagen: «Nein, vielen Dank. Nicht nötig.»
Freddy zuckt gleichgültig mit den Schultern und macht sich auf den Weg zum nächsten Tisch.
Ich habe gerade etwas begriffen: Im Grunde macht es keinen Unterschied, ob Abel Baumann ein psychisch angeschlagener Zirkusclown oder Gott höchstpersönlich war. Und es ist auch nicht wichtig, ob er tatsächlich Wunder vollbracht oder lediglich Zaubertricks präsentiert hat. Was zählt, ist, dass die Erlebnisse mit Abel mich und mein Leben auf den Kopf gestellt haben. Mehr kann man von Gott nicht verlangen, finde ich.
Während ich mir Valentinas Pasta schmecken lasse, komme ich auf die Idee, heute Nacht mit Abel Baumann anzustoßen. Wenn auch nur im Geiste. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch genug Zeit habe, um zuvor in Ruhe mein Silvestermahl zu genießen.
Es ist kurz vor Mitternacht, als ich das Dach jenes Hauses betrete, auf dem ich Weihnachten mit Abel Baumann gesessen habe. Damals befanden wir uns in einer Welt, in der es mich nicht gab. Heute Nacht ist es genau umgekehrt. Es hat inzwischen aufgehört zu schneien. Ich habe eine Flasche Rotwein und zwei Gläser mitgebracht. Ich stelle die Gläser auf die kleine Mauer, die den Dachrand markiert, und schenke ein.
Noch vier Minuten bis Mitternacht. Man hat einen schönen Blick von hier oben. Ich genieße ihn, solange es noch ruhig ist.
Mein Handy vibriert. Eine Nachricht von Mutter. Sie hat mir ein Video geschickt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich derart gut mit moderner Kommunikation auskennt. Beeindruckend.
Es dauert einen Moment, bis die Datei geladen ist. Was ich dann sehe, erfüllt mich mit Wehmut. Jonas, Hanna und Mutter stehen an einem Traumstrand unter karibischer Sonne. Mein Bruder hat einen Arm um seine Geliebte, den anderen um Mutter gelegt. Die drei wirken nicht nur entspannt, sondern auch ein bisschen euphorisch.
«Hallo, Bruder», sagt Jonas. «Ich weiß nicht, wie ich dir jemals für all das danken soll, was du für mich getan hast. Mutter und Hanna haben mir alles erzählt. Ohne dich würde ich jetzt sicher nicht hier stehen. Und ich hätte vielleicht auch nie erfahren, dass ich Vater werde. Dabei ahnst du überhaupt nicht, wie viel mir das bedeutet ...»
«Und es bedeutet ihm wirklich sehr viel», fällt Hanna ihrem Geliebten ins Wort. «Ich habe nicht im Traum daran gedacht, dass Jonas mich bitten könnte, bei ihm zu bleiben, geschweige denn ... ihn zu heiraten.»
«Ja, Bruder, das ist die Neuigkeit des Tages. Wir werden heiraten!», ruft Jonas lachend. «Und du bist definitiv dabei. Wir warten auf dich. Selbst wenn es Monate dauern sollte. Versprochen.»
«Ich möchte mich ganz herzlich für Ihre Hilfe bedanken. Wenn Sie nicht gewesen wären .» Hanna unterbricht sich und überlegt, dann sagt sie mit einem glücklichen Lächeln: «Ich glaube, Sie wissen schon, was ich sagen will.»
«Und ich glaube, du kannst ihn ruhig duzen», sagt Mutter in ihrer forschen Art. «Schließlich ist er bald dein Schwager. Außerdem sollten wir Jakob nicht zu sehr loben, sonst wird er noch hochnäsig.» Sie lächelt freundlich und zupft dann ein wenig verlegen an ihrem Sommerkleid, um sich für die folgende kleine Ansprache zu sammeln. «Andererseits kann ich mich Hanna und Jonas nur anschließen. Du hast uns allen sehr geholfen, mein Sohn. Deshalb hoffe ich, dass jetzt auch dir das Glück winkt.»
«Das hoffen wir natürlich auch!», wirft Jonas ein.
«Und darum», fährt Mutter fort, «wünschen wir dir ein tolles neues Jahr mit allem, was dazugehört.»
«Mit Glück und Gesundheit», ruft Hanna.
«Und viel Geld», ergänzt Jonas mit einem breiten Grinsen.
Ein tadelnder Seitenblick unserer Mutter lässt ihn rasch hinzufügen: «Wobei Geld ja nicht das Wichtigste im Leben ist, wie wir alle wissen.»
«Danke für alles, Jakob», fasst Mutter zusammen, und sichtlich bewegt fügt sie hinzu: «Pass gut auf dich auf, mein Sohn. Wir lieben dich.»
Jonas nickt bestätigend, Hanna wirft mir lässig ein Küsschen zu.
Ich starre auf mein Handydisplay und bin zutiefst gerührt. Gerade fühle ich mich auf eine Art und Weise umarmt, wie sie im Hause von Bartholomäus Jakobi bislang völlig unüblich war.
Jonas verschwindet aus dem Bild, ich vermute, er will die Kamera abstellen. Gerade bin ich im Begriff, das Video zu beenden, da ruft Mutter: «Sekunde noch, Jonas. Das Wichtigste hätte ich ja beinahe vergessen.» Sie blickt wieder direkt in die Kamera. «Jakob, schau doch bitte mal in die obere rechte Schublade im Schreibtisch deines Vaters. Ganz vorn liegen ein paar Unterlagen, die für dich bestimmt sind. Du wirst wissen, was damit zu tun ist. Hoffe ich zumindest. Mir ist klar, dass du nur ungern Geschenke von deiner Mutter annimmst, aber diesmal wäre es blöd, wenn du dich wieder stur stellst. Das Geld ist nämlich so oder so futsch. Betrachte die Sache also bitte einfach als einen Wink Gottes.»
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