«Das ist schade. Sie verpassen was», erwidert Marco mit einem freundlichen Lächeln und schließt die Tür.
«Mein ... Schwager?», zitiere ich Ellen ungläubig.
«Jetzt hab dich nicht so. Er muss ja nicht sofort wissen, dass ich geschieden bin. Männer denken doch immer gleich, dass geschiedene Frauen kompliziert oder konfrontativ sind.»
«Und wie lange glaubst du ihm verheimlichen zu können, dass du beides bist?», frage ich.
«Dein wichtiger Termin wartet», erwidert Ellen schnippisch.
Auf dem Weg zur U-Bahn widerstehe ich dem Bedürfnis, meinen Hunger mit Fastfood zu stillen. Das ist nicht so einfach, weil immer noch der weihnachtliche Geruch von Gebratenem und Gebackenem in der Luft hängt. Ich spekuliere trotzdem lieber darauf, dass Mutter noch ein bisschen Brot und Käse im Haus hat. Beides würde ich gern mit einem von Jonas’ hervorragenden Rotweinen hinunterspülen.
Zu meinem Erstaunen ist Mutter nicht daheim. Was Rotwein, Brot und Käse betrifft, werde ich fündig. Dabei entdecke ich auch eine für mich bestimmte Nachricht, die Mutter an die Kühlschranktür gepinnt hat: Lieber Jakob, ich habe einen sehr aufschlussreichen und wohl auch sehr wichtigen Abend mit Hanna verbracht und werde nun bei ihr übernachten. Ich glaube, dass sie gerade etwas Unterstützung gebrauchen kann. Deshalb wollen wir noch reden und morgen früh dann von ihr aus direkt zum Flughafen fahren. Du musst uns also nicht hinbringen. Mein Gepäck habe ich auch schon abgeholt. Sei doch morgen einfach gegen halb elf am Counter, um uns zu verabschieden. Tausend Dank! Deine Mutter.
Mutters Übergriffigkeit ist also wieder einmal mit ihr durchgegangen. Binnen eines Abends hat sie nicht nur Hanna als künftige Schwiegertochter zwangsrekrutiert, sondern ist auch gleich mal vorübergehend bei ihr eingezogen. Ich mache mir dennoch nur kurzzeitig Sorgen um Jonas’ Ex. Mag ja sein, dass sie gerade ein bisschen fremdbestimmt wird, immerhin ist sie bei Mutter in guten Händen. Außerdem habe ich auf diese Weise meine Ruhe. Ich werde mich deshalb bei einer guten Flasche Wein darauf vorbereiten, dass ich morgen gleich nach der Stippvisite am Flughafen mit der Therapie von Abel Baumann beginne. Wäre doch gelacht, wenn es mir nicht gelänge, erst den Allmächtigen und dann auch die Welt zu retten.
Am Flughafen herrscht hektische Betriebsamkeit. Man sieht Skiurlauber am Sperrgepäckschalter, jugendliche Backpacker, die in ihre Reiseführer vertieft sind und rüstige Rentner auf dem Weg in wärmere Regionen. Beim Anblick des Gewimmels erfasst auch mich Fernweh. Wäre schon nicht schlecht, jetzt für ein paar Wochen in die Sonne zu fliegen.
Ich brauche eine Weile, um am anderen Ende des Terminals Mutters Nerzmantel zu erspähen. Sie wendet mir den Rücken zu und ist offenbar damit beschäftigt, die Anzeigetafel zu studieren. Aber sie muss es sein, denn sie trägt obendrein eines jener bunten Seidenkopftücher, die Vater ihr zu allen möglichen Anlässen geschenkt hat. Beim Näherkommen stelle ich fest, dass Mutter allein ist. Keine Spur von Hanna. Dann wird die sich wohl gerade frisch machen, denke ich. Doch nun fällt mir auf, dass ich auch kein Gepäck in Mutters Nähe sehe, nicht einmal Handgepäck.
Obwohl ich schwören könnte, dass ich Mutters Nerzmantel vor mir habe, umrunde ich sicherheitshalber die Dame mit dem Kopftuch ... und erstarre. «Ellen? Was machst denn du hier? Und warum trägst du Mutters Klamotten?»
Ellen lugt über ihre riesige Sonnenbrille. «Komm einfach her und begrüße mich, als wenn nichts wäre», sagt sie und streckt die Arme aus. «Danach trinken wir irgendwo einen Kaffee, und ich erkläre dir dann in aller Ruhe, was hier vor sich geht.»
Ein paar Schritte entfernt gibt es eines der unzähligen Flughafencafes, die sich zwar vom Ambiente her deutlich unterscheiden, aber alle mehr oder weniger das gleiche Angebot haben. Ellen setzt sich so hin, dass man von draußen ihr Gesicht nicht sehen kann und nimmt die Sonnenbrille ab.
«Wenn du jetzt mal unauffällig an mir vorbeischaust, siehst du dann jemanden, den du kennst?», will sie wissen.
Ich spähe durch die große Fensterfront in die Abfertigungshalle.
«Unauffällig», zischt sie.
Ich zucke zusammen und luge nun so unauffällig an ihr vorbei, dass es schon wieder auffällig ist.
«Und?», fragt sie.
«Nichts», sage ich. «Was ist denn überhaupt los?»
«Ich könnte schwören, dass mir die Polizei auf den Fersen ist. Aber das war ja auch der Sinn der Aktion: Deine Mutter und ich haben beschlossen, dass du und ich die Polizei ablenken, damit Hanna und sie unbehelligt das Land verlassen können.»
Ich muss lachen. «Ihr habt euch einen Plan ausgedacht, um die Polizei auszutricksen? Ist das nicht ein bisschen übertrieben?»
«Man kann nie vorsichtig genug sein», erwidert Ellen. «Die Polizei könnte versuchen, Jonas’ genauen Aufenhaltsort auf Kuba herauszufinden, indem sie uns alle observiert. Es ist schließlich anzunehmen, dass ihn einer von uns früher oder später besuchen wird.»
Ich will etwas erwidern, doch im gleichen Moment stockt mir der Atem, denn die massige Statur von Hauptkommissarin Jutta Kroll schiebt sich nun in mein Blickfeld. Sie flaniert mit zwei uniformierten Polizisten seelenruhig an unserem Cafe vorbei.
Ellen sieht das Erschrecken in meinen Augen. «Du hast sie gesehen.»
Ich nicke. «Es ist dieselbe Kommissarin, die mich am Tag von Jonas’ Flucht ausgequetscht hat. Aber ich glaube, sie hat mich nicht gesehen.»
«Sie hat dich ganz sicher gesehen. Und sie hat auch mich gesehen. Das macht aber nichts. Es wäre ganz gut, wenn sie denkt, dass wir sie noch nicht gesehen haben. Aber selbst das ist kein Beinbruch. Hanna und Esther sind sowieso bald über alle Berge.»
«Wie eigentlich?», frage ich.
«Mit meinem Privatjet», erwidert Ellen gelassen. «Ich erwarte jede Sekunde ’ne SMS. Und das heißt dann: Sie sind weg.»
«Du hast ’n Privatjet?»
«Ja, aber ich teile ihn mir mit zwei anderen Geschäftsleuten.»
«Das ist gut», sage ich mit gespieltem Ernst. «Wenn man zu mehreren Leuten einen Jet kauft, dann geht das nicht gleich so ins Geld. Hab ich auch schon drüber nachgedacht, aber meine Bank zieht nicht mit.»
Verächtlich zieht Ellen eine Augenbraue hoch.
Ich nehme einen Schluck Kaffee. Macht mir inzwischen sogar ein bisschen Spaß, sie mit ihrem märchenhaften Reichtum aufzuziehen.
«Hattest du eigentlich einen schönen Abend?», frage ich.
«Ja. Einen sehr schönen», sagt sie und nippt ebenfalls an ihrem Kaffee. «Ich habe mich zwischenzeitlich allerdings gefragt, ob die Begegnung mit Marco wirklich Zufall war oder ob du deine Finger im Spiel hattest. Die Sache mit dem Koch im Sushiladen hat mich irgendwie stutzig gemacht.»
Ich spiele den bass Erstaunten. «Wie soll ich denn auf die Idee gekommen sein, dass du Interesse an einem Fastfood-Koch haben könntest? Glaubst du, dass ich göttliche Zeichen bekomme oder so was?»
«Ich habe mir dann auch überlegt, dass der Gedanke wohl etwas abwegig ist», erwidert sie und schaut mir dennoch prüfend in die Augen.
Ich halte ihrem Blick stand. Keine Ahnung, wie lange das klappt. Glücklicherweise rettet mich das Summen ihres Handys vor weiteren bohrenden Fragen oder Blicken.
Es ist die besagte SMS. Mutter und Hanna sind also in Sicherheit.
Auf dem Weg durch die Abfertigungshalle werden wir von Hauptkommissarin Kroll angehalten. Sie hat gerade erkannt, dass sich unter dem Kopftuch meiner Begleiterin nicht die Mutter des gesuchten Milliardenbetrügers Jonas Jakobi verbirgt, sondern lediglich meine Exfrau. Einen Moment lang habe ich die Befürchtung, dass Jutta Kroll auf der Stelle ohnmächtig werden könnte. Ihre Gesichtsfarbe wechselt binnen eines einzigen Atemzuges von einem tiefen Rosa in ein strahlendes Weiß.
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