«Jonas weiß noch nicht, dass er Vater wird», erwidere ich. «Im Gegenzug weiß die werdende Mutter nicht, dass er sich abgesetzt hat. Und sie glaubt, dass Jonas ein verheirateter Mann ist. Ich vermute, das hat er erfunden, damit Hanna sich keine Hoffnungen auf eine Beziehung macht.»
Mutter schüttelt verständnislos den Kopf. «Am liebsten würde ich ihm mal ordentlich den Hintern versohlen.» Sie sagt es ohne einen Funken Ironie.
«Mutter, ich befürchte, das wird nicht reichen, um die Unterschlagung von drei Milliarden Euro zu sühnen.»
«Wie dem auch sei», sagt sie. «Das alles müssen wir dieser Frau erklären.» Mutter stutzt. «Wie heißt sie noch mal? Ist sie nett?»
Ich zucke mit den Schultern. «Keine Ahnung. Sie heißt Hanna und macht einen ganz sympathischen Eindruck. Aber ich habe auch erst einmal und nur kurz mit ihr gesprochen.»
«Hanna. Klingt doch hübsch.» Mutters Blick wandert über den Schreibtisch, wo die aufgeschlagenen Alben liegen. Jeder Schnappschuss erzählt ihr eine Geschichte. Und all diese Geschichten bilden das Mosaik ihres Lebens. «Schade», sagt sie mit einem bedauernden Seufzen. «Er hätte wenigstens noch Weihnachten mit uns feiern können.»
Es ist das richtige Stichwort, denn schlagartig fällt mir nun ein, dass ich noch keine Gelegenheit hatte, ihr Jonas’ Weihnachtsgeschenk zu überreichen. Ich hebe den Zeigefinger, um ihr zu bedeuten, einen kurzen Moment zu warten, und springe auf, um das Geschenk zu holen.
«Ist das von dir?», fragt sie wenig später und legt das winzige, in glitzerndes Papier verpackte Kästchen auf den Schreibtisch.
«Von Jonas. Für dich zu Weihnachten», erwidere ich.
«Wolltest du mir etwa nichts schenken?», fragt sie mit gespielter Strenge.
«Doch. Mein Geschenk wäre gewesen, dass ich Heiligabend mit dir verbringe und kein weltweit gesuchter Betrüger bin.»
Sie nickt amüsiert. Dann zupft sie vorsichtig an der silbernen Schleife von Jonas’ Geschenk. Eine kleine Pappschachtel kommt zutage.
«Was soll das? Er wird mir doch wohl keinen Ring schenken?»
Sie lugt in die Schachtel und zieht dann ein gefaltetes Stück Papier hervor.
Verblüfft öffnet sie das Papier. Es ist beschrieben. Mutter liest, dann entspannen sich ihre Gesichtszüge. Sie reicht mir den Zettel.
Ich lese: Cafe Caribe, Havanna, Avenida del Puerto, 15 Uhr.
«Er hat also nicht nur gewusst, dass sein System zusammenbrechen würde, er hat sogar für diesen Fall vorgesorgt», kombiniere ich.
Sie nickt. «Und man kann ihn täglich um 15 Uhr in diesem Cafe treffen. Es gibt also nur einen Weg, um mit ihm zu reden.»
«Du willst nach Havanna fliegen?»
Sie nickt. «Zufälligerweise habe ich noch nicht ausgepackt. Hätte ich das früher gewusst, wäre mir eine Atlantiküberquerung erspart geblieben, aber so kann ich Jonas wenigstens gleich mal seine Verlobte mitbringen.»
«Mutter, die beiden hatten lediglich eine Affäre», korrigiere ich.
«Kannst du diese Hanna irgendwie erreichen?», will Mutter wissen, ohne meinen Einwand überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Eben noch war sie ein Häufchen Elend, nun lässt sie die Aussicht darauf, aktiv werden zu können, im Handumdrehen zur alten Form zurückfinden. Es ist diese brisante Mischung aus Ignoranz, Willensstärke und überbordender Energie, von der sie durchs Leben getragen wird.
«Sie hat mir ihre Telefonnummer gegeben.»
«Sehr gut. Dann sag ihr doch bitte, dass wir morgen nach Kuba fliegen», ordnet Mutter an und fügt mit frischem Elan hinzu: «Du begleitest mich doch diesmal, oder? Ich verspreche dir auch, dass ich die Flüge vom ehrlich verdienten Geld deines Vaters bezahlen werde.»
Mutter ist nun wieder ganz die Alte. Mit der ihr eigenen Selbstverständlichkeit hat sie sich gerade zum Oberhaupt der Karibikmission erklärt.
Ich überschlage kurz, dass die Anwesenheit eines Psychologen angesichts der komplizierten Familienzusammenführung in Havanna hilfreich sein könnte. Andererseits will ich Abel jetzt nicht im Stich lassen, schließlich habe ich mein Wort gegeben, ihm zu helfen.
«Ich muss hier noch ein paar Dinge regeln», antworte ich. «Außerdem sollten wir nicht riskieren, dass die Polizei Jonas auf die Spur kommt. Ich glaube zwar nicht, dass sie dich beschatten. In meinem Fall wäre ich mir da allerdings nicht so sicher.»
«Liefert Kuba denn überhaupt aus?», will Mutter wissen. Gerade klingt sie wie eine professionelle Fluchthelferin.
«Eigentlich nicht, aber es soll ja schon vorgekommen sein, dass Leute verschleppt werden, damit man sie in einem anderen Land vor Gericht stellen oder einbuchten kann. Ich habe keine Ahnung, wie viele Feinde Jonas sich mit seinen Betrügereien gemacht hat. Aber wenn ich bedenke, dass es um drei Milliarden geht, dann werden es nicht wenige sein.»
Mutter nickt ernst. «Da ist was dran», sagt sie.
«Ich besuche ihn einfach, wenn Gras über die Sache gewachsen ist», schlage ich vor. «Kann ein paar Wochen dauern, aber wir haben ja Zeit.»
«Wann, glaubst du, wird die Presse Wind von dem Fall bekommen?», fragt sie, diesmal im Tonfall einer hartgesottenen Anwältin.
Ich zucke mit den Schultern. «Sehr bald, vermute ich.»
«Gut», sagt sie entschlossen und klappt die Fotoalben zu. «Ich kümmere mich um die Reisevorbereitungen, und du treibst diese Hanna auf.»
Hanna aufzutreiben klingt leichter, als es ist. Sie geht nicht ans Handy, leider kann man ihr aber auch keine Nachricht hinterlassen.
Am späten Nachmittag habe ich ihre Nummer so oft gewählt, dass ich sie bereits auswendig kenne. Gegen Abend beschleicht mich eine seltsame Ahnung. Ich erinnere mich an Abels Rat, auf mein Bauchgefühl zu hören, und beschließe, zu jenem Haus zu fahren, auf dessen Dach ich Hanna gesehen habe. Wenn sie in einer anderen Welt Selbstmordgedanken hegt, wer sagt dann, dass das in diesem Leben anders ist?
Es dauert fast zwei Stunden, bis ich das betreffende Haus gefunden habe. Die Straßen in diesem Stadtteil ähneln sich, außerdem war es dunkel, als Abel mich hierhergebracht hat.
Mit klopfendem Herzen erreiche ich die Tür zum Dach. Rein logisch betrachtet ist es äußerst unwahrscheinlich, dass ich Hanna tatsächlich hinter dieser Tür antreffe. Ich drücke die Klinke herunter und öffne. Ein lautes Knarren. Im gleichen Moment erstarre ich.
Hanna. Sie steht am Rande des Daches. Das Knarren der Tür hat sie aus ihren Gedanken gerissen. Wir schauen uns direkt in die Augen, und ich kann ihre bleierne Traurigkeit sehen. Ein kleiner Schritt nur trennt sie vom dunklen Abgrund. Ihr Mantel flattert im Wind.
«Tun Sie es bitte nicht», rufe ich flehentlich und strecke Hanna ganz langsam meine Hand entgegen.
Sie scheint mich anzusehen, doch ihr Blick ist in die Ferne gerichtet. Ich weiß nicht einmal, ob sie meine Anwesenheit bereits bemerkt hat. Ist sie vielleicht betrunken? Oder hat sie Drogen genommen? Sie wendet sich ab und schaut wieder in die Tiefe.
«Ich weiß, wo Jonas ist. Und ich kann Sie zu ihm bringen», sage ich und warte ab, ob meine Worte irgendeine Reaktion bewirken.
Eine Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt, geschieht nichts. Dann streckt sie, ohne mir den Kopf zuzuwenden, langsam ihren linken Arm aus, als würde sie nach meiner Hand greifen wollen. Da ich einige Meter von ihr entfernt stehe, werte ich das als Aufforderung, näher zu kommen.
Vorsichtig gehe ich auf sie zu, den Arm ausgestreckt und bereit, ihre Hand zu ergreifen. Es weht ein eiskalter Wind hier oben. Außerdem ist es spiegelglatt. Überall unter dem Schnee lauern gefrorene Wasserlachen. Eine falsche Bewegung oder ein unüberlegter Schritt könnten ausreichen, um das Gleichgewicht zu verlieren.
Ich muss mich überwinden, immer weiter zum Rand des Daches vorzurücken. Als ich endlich ihre Hand erreiche, zittern mir die Knie.
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