«Unser American Diner befindet sich in der vierten Etage», erklärt uns der gepiercte Patrick wenig später.
«Ach so, Sie haben hier mehrere Restaurants. Ich verstehe.»
«Asiatisch, italienisch, arabisch und amerikanisch», entgegnet Patrick und fügt mit arrogantem Unterton hinzu: «Deshalb der Name. Turm zu Babel.»
«Ein gehobenes französisches Restaurant mit frischen Meeresfrüchten gibt es hier nicht zufällig, oder?», fragt Ellen spitz.
Patrick bleibt die Antwort schuldig. Er ist ebenso geschäftig wie der Koch und deshalb bereits auf dem Weg zum nächsten Tisch.
«Lass uns einen Burger essen», sage ich. «Die sollen hier wirklich gut sein, und im American Diner ist es bestimmt netter als in dieser Sushibude.»
Ich irre mich. Im American Diner ist es noch viel lauter und noch viel ungemütlicher als im Erdgeschoss. Der quietschbunte Laden im vierten Stock hängt voller Flachbildschirme, auf denen gerade ein Footballspiel übertragen wird. Man hört den aufgeregten Kommentar eines amerikanischen Sportreporters, dazu die Reaktionen des Stadionpublikums. Zwischen zwei lautstarken Beifallsbekundungen der Footballfans konstatiert Ellen: «Meinetwegen kannst du dich gern hier unter die Teenager mischen, Jakob. Aber ich werde mich garantiert nicht in diesen Laden setzen.»
«Jetzt warte doch erst mal ...», erwidere ich. Der zweite Teil meines Satzes geht im lauten Gejohle der Footballfans unter.
Eine sommersprossige Bedienung mit Basecap bemerkt, dass Ellen und ich verloren im Eingangsbereich herumstehen. Kurz entschlossen klemmt sich die junge Frau ein paar Speisekarten unter den Arm und marschiert auf uns zu. «Ein Tisch für zwei Personen?» Sie fragt es mit einem starken amerikanischen Akzent.
«Bitte noch einen Moment», sage ich zu der Kellnerin, um bei Ellen dafür zu werben, dem Laden wenigstens eine klitzekleine Chance zu geben. Doch meine Ex hat das Restaurant bereits abgeschrieben. Gerade nimmt sie ein Telefonat an, schlendert plaudernd zur knallroten Eingangstür zurück und bedeutet mir nebenbei, dass ich ihr folgen soll, weil sie nämlich jetzt gehen möchte. Als ich nicht sofort reagiere, wendet sie sich missmutig ab und konzentriert sich nun ganz auf ihr Telefonat.
Ich drehe mich wieder zu der sommersprossigen Kellnerin. «Wissen Sie zufällig, ob Marco heute arbeitet?»
Sie legt den Kopf schief und scheint zu überlegen, um wen es sich handeln könnte.
«Er kocht hier», ergänze ich.
Ihr Gesicht hellt sich auf. «Marco. Groß, schlank. Kurze Haare und so eine Tätowierung am Hals wie George Clooney in From dusk till dawn.»
Tätowierung? Kurze Haare? Ich denke an den übergewichtigen Jonas und frage mich, ob im Gegenzug Marco in der realen Welt derart uncharismatisch sein könnte, dass Ellen ihn nicht einmal zur Kenntnis nähme.
«Er müsste längst hier sein», fährt die sommersprossige Bedienung fort. «Ich vermute, er ist wieder mal spät dran und kommt jeden Moment.»
Ich überlege und schaue zu Ellen, die immer noch in ihr Telefonat vertieft ist und vor der stylischen Schwingtür aus knallrotem Plastik steht, die in diesem Moment kraftvoll aufgestoßen wird. Sie schlägt der ahnungslosen Ellen mit einem Krachen, das selbst die Geräusche des Footballspiels kurz übertönt, gegen die Stirn. Während die verdutzte Ellen mit den Armen rudert, erscheint Marco. Er ist in Eile, bemerkt aber dennoch die strauchelnde Frau und benötigt nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu verstehen, was hier gerade vor sich geht. Während Ellen nun das Gleichgewicht verliert, hechtet Marco zu ihr, um die Fallende aufzufangen. Als ihre Beine wegknicken und sie mit dem Hinterkopf voran auf den Boden zu stürzen droht, streckt Marco rasch die Arme aus und fällt dabei auf die Knie. Da er noch in der Vorwärtsbewegung ist, rutscht er die letzten zwanzig, dreißig Zentimeter über den glatten Boden, als wäre er ein Eiskunstläufer, der seine grazile Partnerin nach einer atemberaubenden Kür zum grandiosen Finale führt. Nur ein paar Zentimeter, bevor sie den Boden erreicht, landet Ellens Oberkörper sicher und weich in Marcos kräftigen Armen.
«Wow», sagt die sommersprossige Kellnerin leise, und man hört ihr an, dass sie auch gerne mal von Marco gerettet werden würde. Ich kann es ihr nicht verdenken, denn ich bin ebenfalls zutiefst von seiner Reaktionsgeschwindigkeit beeindruckt. Und dieser macht Marco weiterhin alle Ehre, denn noch bevor ich mich rühren kann, hat er die entrückt lächelnde Ellen hochgehoben und trägt sie nun auf Händen in Richtung Küche. Ich trotte dem Prinzen und seiner Prinzessin schulterzuckend hinterher.
Ellens Verletzung entpuppt sich als kaum sichtbare Rötung auf der Stirn. Die Plastiktür am Eingang ist federleicht und kann deshalb keine ernstlichen Blessuren verursachen. Es waren also eher die Überraschung und der Schreck, die Ellen aus dem Gleichgewicht gebracht haben.
Marco behandelt sie trotzdem wie ein rohes Ei, was Ellen sichtlich gefällt. Sie wird in einen bequemen Sessel im Aufenthaltsraum hinter der Küche verfrachtet und bekommt aus der Hausapotheke einen Wattebausch mit Arnikatropfen gegen die vermeintliche Beule an der Stirn. Außerdem serviert Marco eiskalten Jahrgangschampagner für den Kreislauf.
«Aber das ist doch nicht nötig», strahlt Ellen und nimmt gleichzeitig das Glas, um mit Marco anzustoßen. Dass ich auch noch da bin und vielleicht ebenfalls gern ein Gläschen Champagner trinken würde, scheint niemanden zu interessieren.
«Das mache ich gern», erwidert Marco charmant. «Außerdem möchte ich Sie zu unserem Burger de luxe einladen. Der ist mit erstklassigem Bio-Rindfleisch und ganz frischen Zutaten gemacht. Ist eine Idee von mir. Leider wollen die meisten Gäste es lieber nicht ganz so luxuriös und dafür billig.» Er stellt sein Glas ab. «Ich frag mal kurz in der Küche nach, ob ich eine halbe Stunde später anfangen kann. Dann leiste ich Ihnen beim Essen Gesellschaft, wenn ich darf.» Er lächelt verlockend. «Das hier ist ja schließlich ein Notfall.»
«Aber ja. Sehr gern», haucht Ellen, während Marco in der Küche verschwindet. Sie sieht ihm einen Moment nach, dann dreht sie sich zu mir und lächelt versonnen: «Ist er nicht süß?»
«Dann essen wir also jetzt doch Burger?», frage ich amüsiert.
Schlagartig wird ihr Gesicht ernst. «Ehrlich gesagt finde ich nicht, dass du einen Burger verdient hast. Schließlich ist es deine Schuld, dass ich mir fast das Genick gebrochen hätte und jetzt aussehe, als wäre ein Vierzigtonner über mich drübergefahren. Ich hätte diesen Marco lieber kultiviert und rein zufällig auf dem Gang getroffen, aber du musstest ja unbedingt noch mit der Kellnerin flirten.»
«Ich habe nicht geflirtet», wende ich ein.
«Egal. Du solltest mir jedenfalls nicht obendrein das erste halbwegs vielversprechende Date seit unserer Scheidung versauen. Kurzum: Es wird das Beste sein, dass du uns einfach allein lässt.»
«Aber ich bin hungrig», begehre ich auf. Ich sage das nur, um sie zu ärgern, denn ich habe längst beschlossen, dezent das Feld zu räumen. Meine Mission ist erfüllt. Ellen und Marco haben sich kennengelernt. Den Rest müssen sie schon selbst erledigen. Dass ich Hunger habe, stimmt allerdings. Großen Hunger sogar.
«Jetzt sei doch nicht so egoistisch!», nörgelt Ellen. «Du kannst doch ...»
Sie verstummt abrupt, weil Marco reinschaut. «Geht klar. Ich fange einfach etwas später an. In fünf Minuten wäre das Essen fertig. Drei Burger de luxe mit allem Drum und Dran?»
«Mein Schwager wollte gerade gehen», flötet Ellen hastig. «Er hat einen Anruf bekommen und muss zu einem wichtigen Termin.»
Sie fixiert mich wie dieser Comic-Held, dessen Augen todbringende radioaktive Strahlen abschießen können.
«Stimmt. Für mich leider nicht», sage ich. «Ich muss los. Und zwar sofort.»
Читать дальше