«Das ist wirklich abgefahren», sage ich tief beeindruckt.
«Würde ich so nicht sagen. Es gibt Dinge, die sind noch viel abgefahrener. Zum Beispiel ... das hier.» Er klatscht in die Hände, und im gleichen Moment stehen wir vor einem Reihenhaus in einer weihnachtlich geschmückten Siedlung. Keine Ahnung, wo genau wir uns befinden. Ich trage nur Hemd und Hose und bin obendrein auf Socken unterwegs. Noch ist mir nicht kalt, aber das wird sich bestimmt in ein paar Sekunden ändern. Auch Abel ist leicht bekleidet.
«Keine Sorge», sagt er. «Gespenster kriegen keinen Schnupfen. Da du nicht existierst, hast du auch kein Kälteempfinden. Übrigens auch keinen Hunger, keinen Durst und keinen Wunsch nach Schlaf.»
«Dann dürfte mir ja meine Nase auch nicht mehr weh tun», sage ich vorwitzig und will den Verband betasten. Erstaunt stelle ich fest, dass der Verband weg ist. Meine Nase fühlt sich an wie neu.
«Wer nicht existiert, kann auch keine angebrochene Nase haben», erklärt Abel. «Und es wäre schön, wenn du dir ab jetzt mal ein paar Dinge selbst erklären könntest. So blöd bist du ja nun auch wieder nicht, oder?»
«Schon okay», sage ich. «Ich glaube, ich habe das System verstanden.»
«Fein», erwidert Abel zufrieden.
«Und wo sind wir hier jetzt gelandet?»
«Köln. Ein Vhrort von Köln, um genau zu sein. Hier wohnt ...» Er räuspert sich. «... Bartholomäus Jakobi mit seiner Familie.»
Schockiert starre ich Abel an.
«Ich habe dich nicht umsonst davor gewarnt, dass diese Sache hier mit abgründigen Erkenntnissen verbunden sein könnte», beeilt sich Abel zu erklären. «Aber wenn du willst, können wir jederzeit aussteigen.»
«Mein Vater wäre noch am Leben, wenn ich nicht geboren wäre?», frage ich fassungslos.
Abel nickt stumm.
«Aber ... warum?»
«Ist eine längere Geschichte. Wie gesagt, du musst sie dir nicht anhören, wenn du nicht willst. Ich könnte jetzt in die Hände klatschen, und im Handumdrehen befinden wir uns wieder im Haus deiner Mutter.»
Ich betrachte das Reihenhaus und sehe, dass in einem der unteren Zimmer das Licht angeschaltet wird. Hinter dem schweren Vorhang ist die Silhouette eines Mannes zu erahnen.
Fragend sehe ich Abel an.
«Ja. Das ist dein ... Vater. Er schläft nicht immer gut. Ist ja auch nicht mehr der Jüngste mit fast fünfundsiebzig.»
Gebannt schaue ich zum Fenster. Ich habe einen Kloß im Hals.
«Lass uns reingehen», sage ich nach einer Weile.
Abel nickt und klatscht in die Hände.
Als ich meinen vor fünf Jahren verstorbenen Vater sehe, versagen mir die Beine. Ich falle um wie ein nasser Sack und krache mit dem Hinterkopf auf den Küchenboden. Ein Knirschen. Keine Ahnung, ob das die Fliese war oder mein Schädelknochen. Vater, der gerade eine Flasche Saft aus dem Kühlschrank genommen hat, wirkt für einen Moment irritiert. Dann gießt er sich schulterzuckend ein und setzt sich an den kleinen Küchentisch.
Während ich mich aufrappele, rekapituliere ich Abels Ausführungen von eben und beeile mich, meine Erkenntnisse in Worte zu fassen: «Da ich nicht existiere, kann ich mir in dieser Welt keinen Schädelbasisbruch zuziehen. Außerdem werde ich nicht ohnmächtig. Richtig?»
Abel nickt zufrieden und zeigt mir seinen erhobenen Daumen.
Ich lehne mich gegen die Küchenanrichte und beobachte Vater dabei, wie er müde an seinem Orangensaft nippt.
«Er sieht kaum älter aus, als ich ihn in Erinnerung habe», stelle ich fest.
«Er treibt Sport, raucht nicht und trinkt nur selten Alkohol», erwidert Abel. Als er mein fragendes Gesicht sieht, fügt er hinzu: «Das heißt nicht automatisch, dass er in einem anderen Leben mit dem Trinken angefangen hat, nur weil er mit deiner Mutter verheiratet war.»
«Und was heißt es dann?», frage ich schnippisch.
«Nichts. Es gibt viele Gründe, warum ein Leben die eine oder andere Richtung nimmt. Vielleicht fühlte er sich einfach nur dem beruflichen Druck nicht gewachsen.»
«Hat er denn nicht hier denselben beruflichen Druck?», wende ich ein.
Abel schüttelt den Kopf. «Nein. Er ist ein unscheinbarer Professor für Psychologie, der ein sehr ruhiges und beschauliches Leben führt.»
«Beschaulich? Unscheinbar? Und was ist mit den vielen Vorträgen, die er überall auf der Welt gehalten hat, nachdem sein Buch über die verkaufspsychologische Wirkung der Spektralfarben erschienen war?»
«Das Buch ist nie geschrieben worden», antwortet Abel. «In diesem Leben sind die wissenschaftlichen Arbeiten deines Vaters eher mittelmäßig.»
«Warum hat er das Buch nicht geschrieben?»
«Als er deine Mutter heiratete, weil sie mit dir schwanger war ...»
«Moment», unterbreche ich. «Ich kenne die Geschichte so, dass die beiden längst verlobt waren, als Mutter schwanger wurde. Und sie wären auch schon verheiratet gewesen, wenn nicht mein Großvater väterlicherseits gestorben wäre, weshalb die Hochzeit verschoben werden musste.»
«Das ist die offizielle Version», entgegnet Abel. «Tatsächlich hat er sie geheiratet, weil sie schwanger war. Sie hat sofort ihr Studium an den Nagel gehängt und sich ganz auf die Rolle der Hausfrau und Mutter konzentriert. Deshalb gab sie ihm ihre Aufzeichnungen für die Magisterarbeit. Ihr war der Abschluss nicht mehr wichtig. Sie dachte, vielleicht würde ihr frischgebackener Ehemann etwas mit ihren Ideen über die verkaufsfördernde Wirkung der Spektralfarben anfangen können.»
«Mutter hat die Theorie erfunden?» Ich bin baff.
«Nicht ganz», erwidert Abel. «Es war eine Gemeinschaftsleistung. Sie hat den Impuls geliefert, aber dein Vater hat die Idee deiner Mutter weiterentwickelt und wissenschaftlich unter füttert.»
Mit einem leisen Knarren öffnet sich die Küchentür, und eine junge Frau betritt den Raum. Sie ist Mitte,höchstens Ende dreißig. Ein bodenlanges Nachthemd mit floralem Muster lässt sie jedoch älter erscheinen.
«Kannst du nicht schlafen?», fragt sie liebevoll.
Er schüttelt den Kopf.
«Möchtest du lieber allein sein?»
Er nickt müde und versucht ein Lächeln.
«Gut. Komm aber bitte bald wieder ins Bett. Es ist kühl hier.» Sie haucht ihm einen Kuss auf die Stirn, er tätschelt dankbar ihre Hand.
«Wer ist das? Seine Frau?», frage ich, während sie hinausgeht.
«Seine zweite Frau. Lydia. Die beiden haben einen gemeinsamen Sohn. Niklas. Er ist neunzehn und studiert in Kanada. Leider hängt er am Flughafen von Montreal im Schneesturm fest, weshalb die drei heute nicht zusammen Weihnachten feiern konnten.»
«Das tut mir leid für die beiden», sage ich und beobachte jenen Menschen, der in einem anderen Leben mein Vater wurde.
«Das heißt also, er war zuerst mit Mutter verheiratet», kombiniere ich.
«Nein. Die beiden waren in diesem Leben überhaupt nicht verheiratet. Sie hatten lediglich eine reichlich komplizierte Affäre. Da deine Mutter nicht mit dir schwanger wurde, fühlte dein Vater sich auch nicht verpflichtet, sie zu heiraten. Und ihr fehlten die schlagenden Argumente, obwohl sie ihn wirklich sehr gern in den Hafen der Ehe geschleppt hätte. So genoss dein Vater stattdessen sein Junggesellenleben. Deiner Mutter blieb nichts anderes übrig, als sich von ihm zu trennen oder ihn mit anderen Frauen zu teilen. Sie entschied sich schweren Herzens für Letzteres.»
Ich überlege. «Soll das etwa heißen, Jonas existiert in dieser Welt ebenfalls nicht?», frage ich.
«Doch, doch», antwortet Abel. «Jonas ist in diesem Leben der uneheliche Sohn von deiner Mutter und Bartholomäus Jakobi. Deine Mutter und eine andere Studentin namens Marlene Stern wurden praktisch zeitgleich von deinem Vater schwanger.»
«Und er hat Marlene geheiratet», vermute ich.
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