«Genau. Sie war ein paar Jahre jünger als deine Mutter, deutlich angepasster und anschmiegsamer und nebenbei die Tochter eines Mannes, der ihm für seine Karriere förderlich zu sein schien.»
«Und ging die Rechnung auf?»
«Wie man’s nimmt», sagt Abel. «Immerhin bekam er eine Professur.»
«Im richtigen Leben hat er Weltkarriere gemacht», wende ich ein.
«Ja, aber das konnte er wirklich nicht ahnen, als er sich für Marlene und gegen deine Mutter entschieden hat», sagt Abel.
«Und Marlene hat er dann für Lydia verlassen?»
«Genau. Aus der Ehe mit Marlene ging Max hervor. Als Max etwa im gleichen Alter war wie Niklas heute, verliebte sich Bartholomäus in jene damals neunzehnjährige Studentin, die heute seine Frau ist. Der zweite Frühling erwischte ihn mit Mitte fünfzig, und wahrscheinlich hätte Marlene die Affäre als späte Midlife-Crisis unter den Teppich gekehrt, wenn Lydia nicht prompt schwanger geworden wäre.»
«Was wurde aus Marlene? Und aus Jonas’ Halbbruder?»
«Im Gegensatz zu deiner Mutter hängte Marlene ihren Beruf nicht an den Nagel. Sie arbeitet heute als Soziologin in Hamburg. Max wohnt noch hier in Köln. Nach der Trennung wusste er nicht, was er beruflich machen wollte und hielt sich ein paar Jahre mit Kellnerjobs über Wasser. Heute besitzt er eine Kneipe in der Altstadt und hat eine Vorliebe für studentische Aushilfskellnerinnen. Ganz der Vater, könnte man sagen.»
«Wieso glaubst du eigentlich, dass du ungestraft meinen Vater beleidigen kannst?», frage ich aufmüpfig.
«Das hier ist nicht dein Vater», erwidert Abel prompt. «Du existierst in dieser Welt überhaupt nicht, deshalb musst du dich auch nicht auf den Schlips getreten fühlen, wenn ich mich über Leute lustig mache, mit denen du eigentlich nichts zu tun hast.»
Zugegeben, gutes Argument.
Bartholomäus Jakobi nimmt den letzten Schluck Orangensaft. Er trägt das Glas zur Spüle und stellt die Flasche zurück in den Kühlschrank. Beim Gehen löscht er das Licht. Man hört seine Schritte auf der Treppe. Das leise Knarren einer Tür, dann endgültig Stille.
Eine Weile passiert nichts.
«Überlegst du gerade, ob du tatsächlich wissen willst, was aus deiner Mutter und deinem Bruder geworden ist?», fragt Abel in die Dunkelheit.
«Ja», antworte ich. «Das war gerade schwerer, als ich gedacht hätte.»
«Ich weiß. Wie gesagt, du kannst jederzeit aussteigen.»
Wieder Schweigen.
«Lass uns zuerst Jonas einen Besuch abstatten», bitte ich.
«Wie du willst.» Abel klatscht in die Hände.
Wir stehen im verschneiten Garten eines Einfamilienhauses. Es ist nun helllichter Tag. Ich schaue mich um. Offenbar eine gehobene Neubausiedlung. Auch die üppigen Nachbargrundstücke sind mit freistehenden Einfamilienhäusern bebaut. Ich wette, unter der dichten Schneedecke verbergen sich mustergültige Gartenanlagen, die im Sommer als Kulisse für mustergültige Barbecues dienen.
«Und hier wohnt Jonas?»
Abel deutet mit einer Kopfbewegung zum Haus. Hinter einer großen Fensterfront ist vage eine fünfköpfige Familie beim Weihnachtsfrühstück zu erkennen.
«Ist das etwa ...?»
«... Jonas mit seiner Familie», vollendet Abel den Satz. «Er und seine Frau Jana haben drei Kinder: Melinda, Maja und Mimi. Fünfzehn, dreizehn und neun Jahre alt. Und alle drei sind Pferdenärrinnen, stell dir das mal vor! Melinda hat gerade ein paar Probleme. Die Pubertät macht ihr ...»
«Mann, Abel!», unterbreche ich verärgert. «Ist dir eigentlich klar, dass das alles hier für mich etwas frustrierend ist? Würde es mich nicht geben, wäre mein Vater noch am Leben, und mein Bruder hätte eine weiße Weste, eine nette Familie und ein hübsches Haus am Stadtrand. Was kommt als Nächstes? Wären der Menschheit vielleicht auch noch einige Seuchen und Kriege erspart geblieben, wenn ich nie das Licht der Welt erblickt hätte?»
«Du überschätzt dich», erwidert Abel locker. «Und wie gesagt: Es kommen immer mehrere Gründe zusammen. Dass dein Bruder in diesem Leben nie um die Anerkennung deiner Mutter kämpfen musste, liegt nicht allein daran, dass es dich nicht gab. Obendrein fehlte ja auch noch sein Vater.»
«Der eine andere Frau geheiratet hat, weil ich nicht geboren wurde. Letztlich bin ich also doch verantwortlich.»
«Das ist absurd», sagt Abel. «Es gibt dich in dieser Welt überhaupt nicht. Wie willst du dann für irgendetwas verantwortlich sein?»
«Es gibt mich aber in der realen Welt», gebe ich zurück. «Und da ich jetzt weiß, wie die ohne mich aussähe, finde ich mich mittlerweise auf eine eher unangenehme Weise ... verschmerzbar.»
«Nur, damit das klar ist», sagt Abel und droht mir mit dem Zeigefinger. «Du ganz allein wolltest wissen, wie die Welt ohne dich aussähe. Wenn du jetzt ein Problem damit hast, dann beklag dich nicht bei mir.»
«Schon okay», winke ich ab. «Jedenfalls ist Jonas also hier ein ebenso ehrlicher wie erfolgreicher Manager. Na toll!»
«Dein Bruder ist ein langweiliger Bankfilialleiter, der seine Energie nicht in kriminelle Aktivitäten, sondern in Grillabende investiert. Und das ist auch schon die ganze Geschichte», sagt Abel.
«Und du behauptest, Jonas hat im richtigen Leben Geld unterschlagen, um Mutter seine Zuneigung zu beweisen?», rekapituliere ich grüblerisch.
«Nein. Aber wie du siehst, wäre er unter anderen Umständen nicht kriminell geworden, sondern ein braver Familienvater.»
Ich schaue neugierig zum Haus.
«Können wir mal näher ran an die VOrzeigefamilie Jakobi?», frage ich.
«Fliedermann-Jakobi», korrigiert Abel. «Sie ist eine geborene Fliedermann.»
Im nächsten Moment stehen wir in der Küche der Fliedermann-Jakobis. Nebenan sind Stimmen zu hören, was genau gesagt wird, kann man aber nicht verstehen.
«Was soll das?», frage ich erstaunt.
«Dass wir hier in der Küche sind? Ich dachte, es wäre besser für dich, wenn wir uns der Sache langsam nähern.»
«Das meine ich nicht», erwidere ich. «Du hast gerade im Garten nicht in die Hände geklatscht, um uns hierhinzubringen.»
«Ach das», sagt Abel. «Das Klatschen ist nur so eine Angewohnheit. Ich muss das nicht machen. Ich könnte zum Beispiel auch mit den Fingern schnippen.»
Er tut es, und im gleichen Moment stehen wir auf dem nächtlichen Times Square in New York inmitten einer Menschentraube.
«Pass auf!», sagt Abel und schnippt erneut mit den Fingern. Schlagartig wird es hell, und wir befinden uns an Bord eines Luxuskreuzfahrtschiffes, das gerade die Oper von Sydney passiert.
«Oder so!», ruft Abel begeistert und zieht an seinen linken Ohrläppchen. Diesmal landen wir auf dem weihnachtlich geschmückten Petersplatz in Rom, wo Tausende Gläubige auf das Erscheinen des Papstes warten.
«Oder ich nehm einfach die andere Seite», frohlockt Abel und zieht an seinem rechten Ohrläppchen. Nun stehen wir mit einer Gruppe Touristen am Rande der Cheops-Pyramide. Abel grinst zufrieden.
«Ich könnte auch ...», beginnt er.
«Abel, bitte lass den Quatsch», unterbreche ich. «Bring uns einfach wieder zurück nach ...» Ich stutze. «Wo wohnt Jonas eigentlich?»
«In Bonn», erwidert Abel. Im selben Moment befinden wir uns wieder in der Küche der Familie Fliedermann-Jakobi.
«Bonn? Aber er hasst Bonn. Er hat hier zwei Jahre gearbeitet und war froh, als er endlich was in Berlin gefunden hat.»
«In diesem Leben hat er Bonn überhaupt nicht verlassen. Er hat hier studiert, und bevor er abhauen konnte, hatte ihn Jana beim Wickel», sagt Abel und schlendert ins Wohnzimmer. «Du wirst dich sowieso ein bisschen wundern, vermute ich.»
«Worüber?», frage ich und folge ihm. «Sag mir nicht, dass Jonas sich das Rauchen abgewöhnt hat.»
«Das sowieso. Eigentlich hatte er wegen Jana kaum Gelegenheit, es sich richtig anzugewöhnen. Sie ist absolut rigoros, was Nikotin und Alkohol betrifft. Das Einzige, was sie ihm erlaubt, ist ...» Abel tritt ein wenig zur Seite, damit ich freie Sicht auf den Frühstückstisch habe. «Ach, schau es dir einfach selbst an!»
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