Christian überhört die Frage. Sein Gesicht hat inzwischen die Farbe eines Kardinalshutes angenommen, die Unterlippe bebt in Stärke 8. Entschlossen schreitet er durch den Gang, um die klostereigene Spielhölle auszuheben. Da ich dieses Schauspiel nicht verpassen will, schließe ich mich rasch an und lasse den armen Bruder Benjamin mit seiner Kärrnerarbeit allein.
In der Klosterküche bietet sich uns ein erstaunliches Bild. Die Bruderschaft umringt das Ende einer langen Tafel, an der sich Abel und der greise Bruder Demetrius reglos gegenübersitzen. Beide haben fünf Karten auf der Hand, auf dem Tisch liegt eine beträchtliche Menge Bargeld. Gleich daneben stehen Wein, Bier, diverse selbstgebrannte Schnäpse, außerdem Brandy, Whisky und eine ungeöffnete Magnumflasche Champagner. Die Zuschauer haben sich mit Drinks versorgt, die meisten rauchen, weshalb die Gesellschaft in dichten Qualm gehüllt ist. Mit ein paar zusätzlichen kleinen Veränderungen wäre das hier auch ein prima Nachtclub.
«Seid ihr alle wahnsinnig geworden?», donnert Christian mit purpurnem Gesicht. «Es steht geschrieben: Mein Tempel soll eine Stätte sein, an der alle Völker zu mir beten können ...»
«Psst», herrscht ihn ein älterer Pater an. Die anderen nicken schweigend, ohne den Blick vom Spiel zu wenden. Abel schaut irritiert hoch, sieht seinen zornigen Sohn und scheint für einen Moment zu überlegen, ob er das Spiel abbrechen soll. Dann aber wendet er sich doch wieder den Karten zu.
«... Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht», fährt Christian ungebremst fort.
«Jaja. Krieg dich wieder ein, Chris», erwidert ein uralter, buckliger Pater, der sich auf einen Stock stützt und mit der freien Hand einen mehrstöckigen Brandy balanciert. «Das Spiel ist doch jeden Moment vorbei.»
Frustriert lässt Christian sich auf eine Bank sinken und faltet die Hände zum Gebet. Fast im gleichen Moment öffnet sich geräuschvoll die Küchentür, und Bruder Benjamin erscheint. Hastig legt er ein paar Scheine auf den Tisch und verkündet: «Das sind dreihundert. Mir ist der Spartopf runtergefallen. Ich kann aber noch zweihundert besorgen.»
Demetrius nimmt die Scheine, hält sie hoch und blickt fragend zu Abel. Der nickt. «Wenn du sagst, dass dein Bruder für zweihundert gut ist, dann ist dein Bruder für zweihundert gut.»
Demetrius legt die Scheine auf den Tisch. Unklar, ob er zittert, weil er nervös ist, oder weil er bald hundert wird. «Gut. Dann will ich sehen.»
Atemlose Stille. Langsam lässt Abel seine Karten auf den Tisch sinken. Er hat zwei hohe Paare: Könige und Damen.
Zitternd legt Demetrius seine Karten ab. Es sind zwei Sieben, eine Neun und ein Bube. Die fünfte Karte wird vom Buben verdeckt. Demetrius fummelt die fehlende Karte hervor. Es ist die dritte Sieben.
«Gelobt sei Gott, der Herr!», ruft jemand erleichtert aus.
«Im Himmel und auf Erden. Jetzt und in alle Ewigkeit. Amen», ergänzt ein anderer.
Abel nickt Demetrius anerkennend zu: «Gutes Spiel, junger Mann.»
Der Greis lächelt zufrieden, schiebt das Geld zu Benjamin und sagt: «Zähl es bitte, Bruder!» Dann schüttet Demetrius sich einen doppelten Scotch ein und kippt ihn in einem Zug runter.
Christian scheint nicht zu begreifen, was gerade passiert ist. «Hat Bruder Demetrius etwa gewonnen?», fragt er mich leise.
«Meiner Schätzung nach so um die sechzehntausend», antwortet Abel, der Christians Frage gehört hat.
Ein Raunen geht durch die Küche.
«Dann können wir jetzt nicht nur den gebrauchten Kastenwagen kaufen, sondern sogar neue Werkzeuge für die Tischlerei anschaffen», verkündet einer der Patres glücklich.
«Und vielleicht ist sogar eine orthopädische Matratze für Bruder Peter drin», ergänzt ein anderer.
«Nichts da! Ich brauch keine orthopädische Matratze», kräht der Mönch mit dem Gehstock und schüttet sich Brandy nach. «Dieser Quacksalber aus dem Dorf redet Blödsinn. Ich bin doch kein alter Mann.»
Christian starrt in die Runde. Nur langsam scheint er zu verstehen. Wie aus dem Nichts taucht Abel auf und drückt jedem von uns einen Drink in die Hand. Er hebt sein Glas: «Auf Bruder Demetrius, den Cincinnati Kid dieser heiligen Hallen.»
«Genau sechzehntausendsiebenhundertfünfzig Euro nach Abzug unserer Einsätze», hört man Bruder Benjamin triumphierend verkünden. Begeistertes Getuschel. Der Champagnerkorken knallt. Benjamin reicht einem Kerl mit Knollennase ein dickes Bündel Geldscheine. Der Knollennasige nimmt den Packen entgegen und verstaut ihn sogleich in einer Metallkiste, die er mit einem übergroßen Vorhängeschloss verrammelt und sich dann unter den Arm klemmt.
«Warum hast du das getan?», fragt Christian und stellt sein Glas zur Seite, ohne getrunken zu haben.
Abel mimt den Unschuldigen. «Was getan?»
«Wenn wir einen Spieleabend veranstalten, dann ist Demetrius nicht in der Lage, eine Partie Mau-Mau zu gewinnen», erwidert Christian. «Und heute entpuppt er sich plötzlich als ... Pokerkönig?»
Abel zuckt mit den Schultern. «Tja. Gottes Wege sind eben unergründlich.» Er wendet sich ab, um der Flasche Brandy zu folgen, die gerade die Runde macht. Christian wirft mir einen skeptischen Blick zu.
Ich zucke mit den Schultern. «Keine Ahnung, woher das Geld kommt, aber wenn es legal erworben wurde, dann sollten Sie es vielleicht einfach wirklich als ein Geschenk des Himmels betrachten.»
«Hat dir das Gespräch mit Christian eigentlich weitergeholfen?», fragt Abel, als wir am nächsten Morgen bei einem kleinen Frühstück in unserer Schlafwagensuite zusammensitzen.
Gestern haben wir den Zug in letzter Minute erwischt und sind sofort müde in die Betten gesunken. Ein paar Drinks zu viel bei der Feier zu Ehren des neuen Pokerkönigs von Simming haben ihren Tribut gefordert.
Jetzt sind wir ausgeruht und so früh auf den Beinen, dass noch eine halbe Stunde Zeit ist, bis der Zug in Berlin eintreffen wird.
«Da wir praktisch nur über dich gesprochen haben, müsstest du eigentlich im Bilde sein», antworte ich. «Oder gab es Funklöcher bei der Gedankenübertragung?»
«Ich dachte, es passt dir nicht, wenn ich deine Gedanken lese», erwidert Abel.
«Es passt mir ja auch nicht. Aber das hat dich scheinbar bislang nicht davon abgehalten, es trotzdem zu tun», antworte ich herausfordernd.
«Ist ja jetzt auch egal», sagt Abel. «Gestern war ich jedenfalls dermaßen auf das Pokerspiel konzentriert, dass ich mir nicht auch noch euer Gespräch anhören konnte. Ihr wart also ganz unter euch.
Ich weiß von nichts.»
«Interessant», sage ich in übertriebenem Tonfall und lehne mich zurück.
«Was ist interessant?», fragt Abel argwöhnisch.
«Dass dich deine Fähigkeiten immer genau dann im Stich lassen, wenn es dir in den Kram passt.»
Abel verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich eine Weile.
«Ich kann ja mal raten, was Christian dir gesagt hat», schlägt er vor und sieht mich provozierend an.
Ich mache eine einladende Handbewegung. «Bitte. Ich bin gespannt.»
«Gut. Die Kurzfassung der Theorie meines Sohnes lautet: Ich bin ein Scharlatan. Wahlweise ein Zyniker, ein Mann, der nicht erwachsen werden will, oder auch: der ewige Clown. Es macht mir also einfach Spaß, die Welt zum Narren zu halten.»
Sein Gesicht fragt: Na? Habe ich recht? Ich nicke, und er fährt fort: «Alles, was ich tue, ist fauler Zauber. Ein bisschen Illusion, ein bisschen Artistik, vielleicht sogar ein bisschen Psychologie. Wer weiß das schon? Jedenfalls lassen sich meine angeblichen Wundertaten problemlos rational erklären. Kurzum: Ein paar Zauberkunststückchen sind kein Beweis dafür, dass ich tatsächlich Gott bin. Dieser Beweis steht noch aus, und das seit mehr als zwei Jahrzehnten, obwohl ich ihn sehr leicht liefern können müsste, wenn ich wirklich derjenige wäre, der ich zu sein behaupte.»
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