Zum anderen beeindruckt mich enorm, was man so alles leisten muss, wenn man heiliggesprochen werden will. Laut Prospekt hat Sonnhild von Simming im 16. Jahrhundert in dieser Gegend nicht nur Menschen und Tiere mittels Wundertinkturen geheilt, sondern auch einen auf der Durchreise befindlichen Bischof nach einem tödlichen Reitunfall wiederbelebt. Die historischen Quellen sprechen sogar von der Auferweckung des Toten, da der letzte Atemzug des Bischofs schon einige Stunden zurücklag, als Sonnhild dem Gottesmann wieder auf die Beine half. Eine hübsche Geschichte und nebenbei eine gute Gelegenheit, Abel zu foppen, finde ich.
«Weißt du eigentlich, dass die Frau, nach der dieses Kloster benannt ist, viel mehr Wunderzeugs draufhatte als du?», frage ich. «Von wegen: wundersame Kaffeevermehrung. Sonnhild von Simming hat Tote zum Leben erweckt! Da kannst du dir mal ’n Beispiel dran nehmen.»
Abel nickt ernst. «Stimmt. Sonnhild war eine sehr begabte Ärztin. Bei der Sache mit dem Bischof habe ich aber trotzdem nachhelfen müssen. Der Kerl war so mausetot wie der Wiener Zentralfriedhof. Als der fette Sack vom Pferd gefallen ist, hat er so einen Schreck bekommen, dass sein Herz einfach zu schlagen aufgehört hat.»
«Hier steht, dass er schon seit Stunden tot war», sage ich und halte den Prospekt hoch. «Soviel ich weiß, hat man bei einem Herzstillstand für die Reanimation nur wenige Minuten Zeit.»
Abel sieht mich mitleidig an. «Jakob, ist das dein Ernst? Du glaubst mir nicht, dass ich Gott bin, nimmst aber Informationen aus dem 16. Jahrhundert für bare Münze, die in einem Klosterprospekt abgedruckt sind?»
Touche. Ich werfe den Prospekt auf den Tisch. «Ich finde übrigens, die hätten uns wenigstens Kaffee anbieten können, wenn sie uns hier schon so lange warten lassen.»
«Das macht Christian absichtlich. Es ist seine Art, sich und uns zu beweisen, dass die Uhren hier anders ticken», sagt Abel und lässt keinen Zweifel daran, dass ihm diese Behandlung überhaupt nicht schmeckt. «Du musst wissen, dass man hier über den weltlichen Dingen steht - zumindest glaubt das mein Sohn.»
«Und? Was ist daran so falsch?», frage ich. «Meines Wissens ist es ein gängiges Konzept von Klöstern, dass man sich dort von der Welt abwendet, um sich Gott zuwenden zu können.»
«Ja. Ist ja auch okay», erwidert Abel. «Nicht mein Fall, aber okay.»
Knarrend öffnet sich eine schwere Holztür, und ein junger Mann in Mönchskutte erscheint. Die Ähnlichkeit mit Abel ist in natura noch frappierender als auf dem Foto.
«Entschuldigung, dass Sie warten mussten, aber ...» Er schluckt den Rest des Satzes herunter, als er Abel sieht, und wirkt nun verärgert. «Hat Mutter dir nicht gesagt, dass es besser wäre, wenn du ...»
«Doch. Hat sie. Ich weiß, dass du mich nicht sehen willst», kürzt Abel die Erklärung ab. Er hat sichtlich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. «Ich bin auch nur hier, weil ich Jakob begleitet habe und es draußen schneit.» Er lächelt schmal. «Und weil ich mich darauf gefreut habe, dich zu sehen.» Nach kurzem Zögern fügt er hinzu: «Ehrlich gesagt, habe ich auch ein bisschen darauf gehofft, vielleicht kurz mit dir reden zu können.»
Christian überhört Abels Gesprächsangebot demonstrativ und reicht mir die Hand. «Und Sie sind also Dr. Jakobi. Freut mich, Sie kennenzulernen. Darf ich Ihnen die Anlage zeigen, während wir uns unterhalten?» Mit einer einladenden Geste öffnet er die Tür.
«Gern», erwidere ich. «Vielleicht möchte Ihr Vater uns dabei ...»
«Mein Vater kennt das Kloster bereits», fällt Christian mir ins Wort. Mit Blick auf Abel fügt er hinzu: «Ich bitte Bruder Zacharias, dir Kaffee zu bringen. Möchtest du auch etwas essen?»
Abel winkt traurig ab. «Nein. Aber Kaffee wäre toll.»
Die beiden nicken sich zu. Ich sehe Abel an, dass er viel geben würde für ein winziges Zeichen der Zuneigung: ein freundliches Wort, ein kurzer Händedruck oder ein kleines Lächeln.
Doch Abels Sohn wendet sich ab und verlässt den Raum, ohne seinen Vater noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
«Warum halten Sie Ihren Vater so demonstrativ auf Distanz?», frage ich, als wir wenig später den Versammlungsraum des Klosters betreten. Wie alle Räume, die wir bislang besichtigt haben, ist auch dieser schlicht gestaltet und karg möbliert. Ein einsames Holzkreuz ziert den unverputzten Stein. Die übrigen Wände sind schmucklos.
Das Kreuz ist mir auf unserem kurzen Weg durch die Anlage schon einige Male begegnet. Ich vermute, zur Eröffnung hat man eine Sammelbestellung in Auftrag gegeben. Christian registriert, dass ich das Symbol des Leidens Christi nachdenklich betrachte.
«Wir haben hier eine eigene Tischlerei», erklärt er. «Dort werden diese Kreuze hergestellt. Wir verkaufen sie, nebenbei bemerkt, auch recht erfolgreich, sogar bis nach Lateinamerika. Das Modell ist schlicht, preiswert und auf Wunsch liefern wir es vorgesegnet.»
«Weil ein bayerischer Segen besonders gut wirkt?», vermute ich.
«Weil es viele Menschen gibt, die strapaziöse Reisen unternehmen müssten, um einen Geistlichen zu treffen, der den priesterlichen Segen erteilen kann», korrigiert Christian nachsichtig.
Ich überlege. «Interessant. Glauben Sie, es gibt auch einen Markt für vorvergebene Sünden?», frage ich. «Für Menschen, die es zu weit zum nächsten Beichtstuhl haben? Oder die zeitlich stark eingebunden sind? Man könnte einen Block mit Abreißzetteln anbieten, mit denen Sünder ihre Sünden annullieren dürfen. Pro Sünde wäre einer dieser Zettel fällig .»
«Es ist gut, Sie müssen Ihren geschmacklosen Witz nicht noch weiter ausbauen», unterbricht Christian verschnupft. «Ich habe ihn verstanden.»
«Verraten Sie mir dann, welche schwere Sünde Ihr Vater begangen hat, dass er von Ihnen nicht einmal ein freundliches Wort hört, wenn er Sie besucht?»
Zufrieden bemerke ich ein nervöses Zucken in Christians Mundwinkel. Der Gottesmann ist sauer auf mich, vielleicht sogar richtig wütend. Aber genau das will ich erreichen. Wenn er sich während unseres Gespräches so unter Kontrolle hat wie bei der Begrüßung seines Vaters, dann werde ich hier nichts Neues erfahren. Deshalb muss ich Christian aus der Reserve locken. Nur so wird sich zeigen, welche emotionale Bindung zwischen ihm und Abel besteht. Also setze ich nach.
«Steht das nicht sogar in den Zehn Geboten?», frage ich scheinheilig. «Dass man Vater und Mutter ehren soll?»
Das Zucken in Christians Mundwinkel wird stärker. Ich rechne damit, dass ihm jeden Moment der klerikale Geduldsfaden reißt.
Doch dann passiert etwas Erstaunliches. Christian schließt die Augen, atmet zweimal tief durch und ist plötzlich wieder die Ruhe selbst.
«Ich kann verstehen, dass Sie Ihren Patienten verteidigen», sagt er gelassen. «Aber Sie müssen auch mich verstehen. Der Mann, der im Empfangsraum auf uns wartet, hält sich für Gott. Und das ist nicht nur eine schwere Sünde, sondern auch ...»
«Sie sprechen von ihm, als wäre er ein Fremder», unterbreche ich.
Christian zuckt mit den Schultern. «Das entspricht ja auch den Tatsachen. Ich habe meinen Vater praktisch nie zu Gesicht bekommen, weil er ständig die Welt retten musste. Da ist es doch logisch, dass mein Stiefvater mir sehr viel näher steht. Aber ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass mein leiblicher Vater gewaltige Anstrengungen unternommen hätte, um die Situation zu ändern. Und jetzt tauchen Sie hier auf und wollen mir erzählen, dass ich ihm trotzdem etwas schuldig bin. Was führt Sie nur zu dieser seltsamen Erkenntnis, Dr. Jakobi?»
«Die Logik», erwidere ich.
Christian sieht mich erwartungsvoll an.
«Da es sich bei Ihrem Vater um einen Mann mit einer schweren Psychose handelt, würde ich erwarten, dass sich ein überzeugter Christ, wie Sie es mit Sicherheit sind, um ihn kümmert. Und zwar nicht allein um der Verwandtschaft willen, sondern schlicht aus Nächstenliebe.»
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