«Oh. Das wusste ich nicht. Tut mir leid.»
«Muss es nicht», entgegnet Abel. «Sie liegt falsch. Josef ist nicht unfruchtbar, die beiden passen nur biologisch nicht gerade perfekt zusammen. Josef hatte mal eine Affäre mit der Nachbarin. Er hat mit ihr ein Kind gezeugt. Aber das weiß er nicht, weil sie es ihm verschwiegen hat.»
«Und euer Sohn heißt Jesus», rate ich.
«Christian», korrigiert Abel.
«Was ist mit Christian?», will Maria wissen. Gerade hat sie die Küche betreten.
«Wir sind mit ihm verabredet», antwortet Abel. «Später.»
Sie nickt, scheint aber nicht eben begeistert von unserem Plan zu sein. Sie stellt die mitgebrachten Flaschen auf den Tisch. «Limo oder Bier?»
«Limo», antworten Abel und ich synchron. Die letzte Nacht steckt uns noch in den Knochen.
Die Küchentüre knarrt, und ein gedrungener Kerl mit riesigen Händen betritt den Raum. Er trägt eine Lederhose und ein kariertes Hemd, aus dem graue Brusthaare hervorschauen. «Grüß Gott, miteinander!»
«Ich grüß dich auch, Josef!», erwidert Abel sonnig.
Marias Mann nickt in die Runde, setzt sich an den gedeckten Tisch und bekreuzigt sich. «Wir wollen beten.»
Er wartet, bis alle die Hände gefaltet und die Köpfe gesenkt haben.
«Gott will uns speisen. Gott will uns tränken. Nun lasst uns still unsere Augen senken. Und lasst uns seiner Gäste gedenken.»
Hübsches Gebet, finde ich, räuspere mich und will gerade sagen: Amen. Da trifft mich Josefs vorwurfsvoller Blick. Offenbar ist er noch nicht fertig. Rasch nehme ich wieder eine demütige Haltung ein.
«Und lasst uns seiner Gäste gedenken», wiederholt Josef mit Nachdruck. «Dem Hirsch im Klee. Dem Karpfen im See. Der Biene im Honigduft. Dem Spatz in der Himmelsluft ...»
Ich werfe Abel einen fragenden Blick zu. Keine Reaktion.
«... Der Schlange im Dorn. Dem Mäuschen im Korn ...» Josef scheint das Gebet sehr zu mögen, denn seine eben noch ernste Miene verwandelt sich zunehmend in ein entrücktes Lächeln. «... Dem Bären im Forst. Dem Adler im Horst ...»
Ich überschlage, dass allein die Aufzählung der heimischen Tierarten schnell mal ein paar Stündchen in Anspruch nehmen könnte, und hoffe, dass dem Verfasser des Gebets zügig die Reime ausgegangen sind.
«... Dem Fuchs auf der Heide. Der Kuh auf der Weide. Dem Hasen im Park. Der Taube im Schlag ...»
Jesus Christus! Kann das mal jemand abstellen?
«... Dem Käfer im Reis. Der Krähe im Mais ...»
Ich muss niesen. Josef hält inne und wartet dann seelenruhig ab, bis alle sich geräuspert haben und wieder absolute Stille eingekehrt ist. Gerade will er mit seinem enzyklopädischen Gebet fortfahren, da erscheint eine Denkfalte auf seiner Stirn. Er überlegt, an welcher Stelle ich sein Gebet mit meinem unheiligen Niesen unterbrochen habe.
«Krähe im Mais», sage ich rasch. Ich befürchte, wenn er den Anschluss nicht findet, fängt Josef einfach wieder von vorn an. Gott sei Dank hellt sich seine Miene auf. Er erinnert sich also. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass Abel sich ein Grinsen nicht verkneifen kann.
«Dem Käfer im Reis. Der Krähe im Mais», setzt Josef erneut an. «Dem Kuckuck im Stamm. Dem Bock auf dem Kamm. Dem Ochs auf der Au. Dem Huhn und dem Pfau. Dem Löw, der Gazelle. Dem Gnu, der Libelle. Dem Fröschlein im Teich ...»
Ich schiele zu den Weißwürsten. Das wird wohl heute nichts mehr.
«... Ob arm oder reich ...», höre ich Josef sagen und spitze die Ohren. Was war das? Ein Themenwechsel? Ist etwa die Liste der Tiere abgearbeitet? Ich mache mir zarte Hoffnungen, dass das Gebet doch noch vor Anbruch der Nacht ein Ende haben könnte.
«... Ob Wiese, ob Wald. Ob jung oder alt. Ob Mensch oder Tier. Ob Fliege, ob Stier. Ob groß oder klein .» Josef macht eine Kunstpause, in der man nun blöderweise mein gelangweiltes Seufzen hört, was der Vortragende aber ignoriert. «Gott lädt uns alle ein. Er gibt uns reichlich Speis und Trank. Drum beten wir: Dem Herrn sei Dank.»
«Amen», sagt Maria und bekreuzigt sich in Windeseile, um nun zügig alle Anwesenden mit Weißwürsten und Getränken zu versorgen.
Halleluja. Das Schönste am Gottesdienst ist der Moment, wenn man ihn hinter sich hat. Das weiß ich noch gut aus jener Zeit, als meine Mutter mich sonntags in die Kirche schleppte.
«Guten Appetit!», wünsche ich höflich. Abel nickt stumm. Maria und Josef schauen mich jedoch an, als hätte ich einen dreckigen Witz erzählt. Wie ich nun erklärt bekomme, mögen unsere Gastgeber es nicht, wenn beim Essen gesprochen wird. Zeitraubende und langweilige Gebete sind okay, anregende Gespräche unerwünscht. Glücklicherweise sind ein paar Weißwürste rasch gegessen. Sonst wäre das hier wohl eine sehr zähe Angelegenheit.
Nach dem Mahl bitten Josef und Maria mich in die gute Stube. Allein. Das trifft sich gut, weil ich mit den beiden ohnehin über Abel reden wollte.
«Es freut uns sehr, dass Gott endlich einen Weg gefunden hat, um unserem bedauernswerten Abel zu helfen», fällt Josef mit der Tür ins Haus. Er fischt eine besonders hässliche Pfeife aus einem rustikalen Pfeifenhalter und beginnt, sie umständlich zu stopfen. «Wissen Sie, mein Großvater, der Jeremias, war auch mehr als zwanzig Jahre seines Lebens ans Bett geschnallt. Und nun frage ich Sie: Hat es ihm etwa geschadet?»
«Oh. Ich fürchte, dass es ihm durchaus geschadet hat», antworte ich vorsichtig. «Glücklicherweise haben sich aber die Therapiemethoden in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert ...»
«Nein. Es hat ihm nicht geschadet», fällt Josef mir mit erhobener Stimme ins Wort. Und im Stil eines Predigers fährt er fort: «Weil unsere Seele nämlich gerettet wird, wenn wir Gottes Plan gehorchen. Der heilige Paulus hat uns ein Beispiel gegeben. Als die Brüder und Schwestern ihn anflehten, sich nicht in die Hände seiner Verfolger zu begeben, da sagte Paulus: .»
«Amen», sagt Maria und bekreuzigt sich rasch.
«Wurde Paulus denn auch ans Bett gefesselt?», rutscht es mir raus.
Josef, der gerade seine Pfeife anzünden will, hält inne und blickt konsterniert zu Maria. Die zuckt hilflos mit den Schultern.
Ihr Mann wirft mir einen abfälligen Blick zu, dann setzt er den Pfeifentabak in Brand. Sekunden später ziehen ekelhaft süßliche Rauchschwaden durch die Luft.
«Was hat Abel Ihnen eigentlich über seine Probleme erzählt?», frage ich.
«Nicht viel», erwidert Josef. «Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Als die Maria damals schwanger war, da hat der Abel sich bloß aus der Affäre ziehen wollen. Deshalb hat er diesen Blödsinn erfunden, dass er Gott ist. Man kennt das doch von Leuten, die nicht zum Militär wollen. Die sagen dann auch, dass sie schwul sind. Oder bekloppt.»
«Ahm, meines Wissens ist Homosexualität kein Hinderungsgrund mehr für eine militärische ...» Ich unterbreche mich und winke ab. Es hat sicher keinen Sinn, mit Josef über homosexuelle Amtsträger zu reden.
«Wissen Sie noch, wann Abel zum ersten Mal behauptet hat, Gott zu sein?», frage ich.
«Der Christian ist im Sommer einundzwanzig geworden», antwortet Maria. «Also logischerweise vor zweiundzwanzig Jahren.» Sie bekreuzigt sich erneut, als könne himmlischer Beistand nicht schaden, wenn es um ihre Affäre mit Abel Baumann geht.
«Und haben Sie beide damals versucht, Abel zu helfen?»
Josef nickt energisch. «Zum Pastor Oettinger höchstpersönlich hab ich den Abel geschleppt. Aber der Oettinger konnte auch nichts für ihn tun. Unser Pastor hat dann die Diözese informiert. Der Bischof hat zurückgeschrieben, dass die Kirche nicht zuständig ist. Wenn der Abel vom Teufel besessen gewesen wäre, dann hätte man ihn exorzieren können. Aber gegen Leute, die von Gott besessen sind, da kann selbst der Vatikan nichts ausrichten.»
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