«Wie muss ich mir das vorstellen?», frage ich, ebenso müde wie entgeistert. «Du schlüpfst mal kurz in den Körper von Michelangelo und meißelst seine David-Statue fertig?»
Abel lacht. «Michelangelo war einer der wenigen, die meine Hilfe nicht gebraucht haben. Aber ich hab zum Beispiel für Balzac Kaffee gekocht, als er an seiner menschlichen Komödie gearbeitet hat.»
Jetzt muss ich lachen. «Soviel ich weiß, ist Balzac unter anderem daran gestorben, dass er zu viel Kaffee gesoffen hat.»
«Ja, das war blöd», erwidert Abel. «Außerdem hatte ich mir von dem Romanzyklus viel mehr versprochen. Im Nachhinein hab ich mich wahnsinnig geärgert. Statt Balzac zu helfen, hätte ich den jungen Louis Pirandreau unterstützen sollen.»
«Sagt mir nichts. Müsste ich den kennen?»
Abel schüttelt den Kopf. «Er ist ein Unbekannter geblieben. War ein sehr guter Autor. Zeitgenosse von Balzac. Hätte ich Pirandreau unterstützt, würde es heute wahrscheinlich einige ausgezeichnete Bücher von ihm geben. So aber hat er den elterlichen Laden übernommen und nie etwas veröffentlicht.»
Ich möchte noch nicht schlafen, spüre aber, dass der Kaffee meine Müdigkeit nicht mehr lange im Zaum halten wird. «Warum hast du nicht einfach die Bösewichte ausgeschaltet?», will ich wissen. «Du hättest in ihre Körper schlüpfen und bessere Menschen aus ihnen machen können.»
«Stimmt», sagt Abel. «Kurzfristig wäre das eine Lösung gewesen. Aber eben nur kurzfristig. Seelen kann man nicht einfach umprogrammieren. Sie müssen lernen. Manchmal dauert das ein paar Jahre, manchmal Jahrzehnte, manchmal auch Jahrhunderte. Außerdem kann ich nicht überall gleichzeitig sein. Schon in der Frühzeit gingen mir regelmäßig ein paar Dutzend Seelen durch die Lappen, während ich versuchte, eine einzige zu retten. Heute ist das Verhältnis katastrophal. Wenn du ein Arschloch auf den richtigen Weg bringst, wachsen Tausende nach, die noch viel schlimmer sind. Ich weiß wirklich nicht, wo das noch alles hinführen soll.»
Abel schiebt seine Tasse zur Seite, greift nach seinem Glas und gießt sich Scotch ein. «So. Ein letzter. Dann muss ich ins Bett.»
Kommentarlos schiebe ich mein leeres Glas über den Tisch. Abel füllt es. Wir prosten.
«Außerdem habe ich mich schon oft gefragt: Was ist gut? Und was ist böse?» Müde nippt Abel an seinem Scotch. «Dieser Drink hier ersetzt in manchen Situationen die Medizin. Das Zeug kann einen aber auch um den Verstand bringen. Oder nimm das Geld. Man kann viele sinnvolle Sachen damit kaufen, es ist aber auch in der Lage, ganze Nationen ins Chaos zu stürzen. Offenbar gibt es immer einen Weg, selbst die schönsten und nobelsten Dinge ins Gegenteil zu verkehren, wenn man es darauf anlegt.» Abels Blick verdüstert sich. «Tja. Das also ist die Situation: Ich habe mich durch die Weltgeschichte gehangelt und versucht, alles zum Besseren zu wenden. Und was ist dabei herausgekommen? Nichts! Null! Ich bin auf der ganzen Linie gescheitert. Schau dir die Welt an! Hunger, Krieg, Katastrophen, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Umweltverschmutzung, wohin man sieht. Habe ich was vergessen?»
Ich stütze mich müde auf dem Bett ab. «Dass diese Welt hier manchmal kein Zuckerschlecken ist, musst du mir nicht erklären, Abel. Aber die meisten Leute auf diesem Planeten finden das Leben trotzdem gar nicht so übel.»
Abel sieht mich an. «Du willst sagen, dass es auch mir ganz gut gehen könnte, wenn ich nicht diese blöden Wahnvorstellungen hätte.»
«Na ja. Vielleicht ist es besser, ein glücklicher Zirkusclown zu sein als ein unglücklicher Gott», überlege ich laut.
«Aber ich bin nun mal Gott», erwidert Abel. «Was soll ich denn machen?»
«Was soll ich machen?», frage ich. «Wenn nicht einmal Gott sich helfen kann, wie soll ein einfacher Mensch es dann können?»
Abel beugt sich vor. «Was bin ich denn ohne die Menschen, Jakob? Nichts! Ich kann nur etwas bewegen, wenn möglichst viele an mich glauben. Wenn sich niemand für das Gute interessiert, dann bin ich schlicht erledigt. Und genau das ist mein Problem. Die Kraftlosigkeit, die ich gerade spüre, wird größer mit jedem Menschen, der den Glauben verliert. Verstehst du, Jakob? Mein Burnout ist der Burnout der Welt.»
Schweigen. Abel hat sich da eine bemerkenswerte Theorie zusammengebastelt, finde ich. «Und was genau kann ich für dich tun?»
«Offensichtlich mache ich irgendetwas falsch. Hilf mir, es zu finden, damit die Menschen wieder an mich glauben.» Er sieht mich eindringlich an. «Aber zuerst musst du an mich glauben, Jakob. Wie soll ich jemals die Menschheit überzeugen, wenn selbst mein Psychotherapeut mich für einen Spinner hält.»
Ich erwidere Abels Blick, schweige aber. Es ist ein außerordentlich intelligenter Schachzug von meinem Patienten, dass ich ihn nur dann therapieren kann, wenn ich zuvor seine Wahnvorstellungen als real akzeptiert habe.
Er lächelt. «Denk dran, Jakob. Ich kann deine Gedanken lesen.»
«Das ist gut», sage ich. «Dann bist du ja im Bilde.»
«Du kommst spät.» Die Frau, die uns die Tür öffnet, ist Mitte vierzig, hat dichtes, pechschwarzes Haar und stark geschminkte Augen. Sie trägt ein blaues Dirndl, das ihre beträchtliche Oberweite eindrucksvoll zur Geltung bringt. An ihrem Hals hängt ein ebenfalls übergroßes Kruzifix, gehalten von einem schlichten Lederriemen. Es sieht ein bisschen aus, als würde der Gekreuzigte ihr in den Ausschnitt schielen.
«Die Bahn hatte Verspätung», erwidert Abel lapidar.
«Na, dann willkommen», sagt die Frau und tritt zur Seite, um uns hereinzulassen.
Essensgeruch hängt in der Luft. Der Flur ist vollgestopft mit Devotionalien: Kreuze, Heiligenbilder, Rosenkränze und diverse Madonnen. Die Figuren stehen auf passgenauen Sockeln, was dem Flur die Anmutung eines überdimensionalen Setzkastens verleiht. Am Ende des Ganges kann ich einen Hausaltar erkennen, der von zwei armdicken Kerzen illuminiert wird.
«Und Sie müssen Abels Seelenklempner sein», begrüßt mich die Frau herzlich. «Ich bin die Maria. Wird höchste Zeit, dass sich endlich mal jemand um den Abel kümmert.» Sie deutet auf ein kleines, bronzenes Weihwasserbecken an der Wand. «Wenn der Herr Doktor sich vielleicht kurz bedienen möchte ...»
«Vielen Dank. Aber ich bin nicht sehr gläubig.»
«Das gehört sich hier aber so», sagt sie barsch.
Ihr Tonfall duldet definitiv keine Widerrede, also tauche ich überrumpelt meine Fingerspitzen ins Weihwasserbecken und bekreuzige mich hastig. Abel, der die Prozedur ebenfalls hinter sich bringen muss, ist sichtlich amüsiert.
«Hier hat sich aber jemand viel Mühe gegeben», bemerke ich beim Anblick der akkurat ausgerichteten Heiligenfiguren.
«Das war alles der Josef, mein Mann», erklärt sie und geleitet uns in die Küche. «Der Josef ist nämlich Zimmermann.»
Auf dem Tisch stehen eine Schüssel mit Weißwürsten, ein Korb mit Salzbrezeln und ein großes Glas süßer Senf. Mit den Worten «Ich hol uns rasch noch Bier und Limonade» verschwindet Maria.
Ich werfe Abel einen kritischen Blick zu. «Die beiden heißen Maria und Josef? Das ist’n Witz, oder?»
«Nein. Wieso?», erwidert Abel. «Wir sind hier in Bayern. Komisch wäre es eher, wenn die beiden anders heißen würden.»
«Und er ist . Zimmermann?»
«Was hast du gegen diesen ehrenwerten Beruf einzuwenden?»
«Und haben Maria und du vielleicht zufällig auch einen Sohn, den Josef quasi adoptiert hat?», frage ich.
«Zufällig ja. Wobei Maria gleich drei Kinder von drei verschiedenen Männern hat. Josef ist in keinem Fall der leibliche Vater. Er hat es irgendwann akzeptiert, dass seine Frau regelmäßig von anderen Männern schwanger wurde. Wie du unschwer erkannt hast, sind die beiden sehr gläubig. Er glaubt, dass Gott ihn prüfen will. Sie glaubt, dass Gott ihr andere Männer schickt, weil Josef unfruchtbar ist.»
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