Ratlos blicke ich zu Abel. Der zuckt mit den Schultern. «Was soll ich dir sagen, Jakob? Du würdest es ja doch nicht glauben.»
«Versuchen wir es», erwidere ich. «Vielleicht überzeugst du mich ja.»
Abel wiegt skeptisch den Kopf hin und her, dann gibt er sich einen Ruck.
«Es passiert beim Blinzeln», erklärt er. «Vor jedem Lidschlag schaltet dein Gehirn für ein paar hundert Millisekunden die Wahrnehmung aus, damit dir dein eigenes Blinzeln nicht auffällt. Deshalb verpasst du alles, was in dieser Zeit passiert. Ist übrigens bei allen Menschen so.»
«Und in dieser Zeit gießt du mir Kaffee nach?»
«So ähnlich», erwidert Abel grinsend.
«Vielleicht solltest du Kellner werden», stichele ich. «Leute mit einem solchen Tempo werden händeringend gesucht.»
Abel lächelt milde. «Der Planet, auf dem wir beide gerade sitzen, braucht auch nur einen Lidschlag, um sich fast fünfzehn Kilometer durchs Weltall zu bewegen. Ist keine Weisheit von mir, sondern eine ...» Er betont das folgende Wort genüsslich. «... wissenschaftliche Erkenntnis. Was kommt dir nun merkwürdiger vor? Dass ich in der Lage bin, dir ein bisschen Kaffee in die Tasse zu zaubern? Oder dass wir beide gerade mitsamt dieser Welt und einer Geschwindigkeit von fast zweitausend Stundenkilometern durch einen schwarzen, unendlichen Raum stürzen?»
Argwöhnisch beäugen wir uns. Zwei Boxer, die sich umkreisen und auf den entscheidenden Schlag lauern. Sieht nach einem ruhmlosen Unentschieden aus.
«Du hast meine Frage noch nicht beantwortet», sage ich. «Wenn du wirklich Gott bist, warum veränderst du die Welt dann nicht mit einem Fingerschnippen nach deinen Vorstellungen?»
«Wieso interessiert dich das?», erwidert Abel patzig. «Du glaubst doch sowieso nicht, dass ich Gott bin.» Er verschränkt die Arme vor der Brust und blickt düster ins Schneegestöber.
Auch ich drehe den Kopf wieder zum Fenster und schaue den Flocken beim Tanzen zu. Wenn man bedenkt, dass wir während unseres Gesprächs tatsächlich Hunderte von Kilometern durchs Weltall geschleudert werden, dann kann einem bei diesem Gedanken schon ein bisschen mulmig zumute werden. Erstaunlich, woran wir Menschen so alles glauben, weil wir es zu wissen glauben.
«Ich könnte versuchen, mir für die Dauer unserer Zusammenarbeit so eine Art professioneller Schizophrenie zuzulegen», beginne ich.
Abel merkt auf.
«Das heißt, als Psychologe wäre ich weiterhin der wissenschaftlichen Überzeugung, dass es sich bei Abel Baumann um einen Menschen mit einer schweren Psychose handelt. Und sollten wir auf eine kritische Situation zusteuern, dann würde ich auch auf Basis dieser Überzeugung meine Entscheidungen treffen.»
«Aber ...?»
«Aber es gäbe eben auch noch den Privatmann Jakob Jakobi. Und der könnte nicht abstreiten, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die man nicht erklären kann. Dieser Privatmann wäre wohl sogar bereit, die Existenz gewisser unbekannter Mächte anzuerkennen. Ob man das aber nun schon als Gottglaube bezeichnet kann, das sei dahingestellt.»
«Immerhin», konstatiert Abel. «Das ist doch mal ein Anfang.»
«Du hast aber schon verstanden, dass ich fremde Hilfe hinzuziehen muss, wenn wir die Situation nicht in den Griff bekommen, oder?»
Abel nickt. «Du tust das, was du gut kannst. Ich tue das, was ich gut kann.»
Ich stutze. «Ist das aus der Bibel?»
Abel schüttelt den Kopf. «Nein. Aus Heat. Der erste gemeinsame Auftritt von De Niro und Pacino.»
Ich greife nach meinem Kaffee, um den nächsten Anfall von Müdigkeit im Keim zu ersticken. «Wir wollten über deine eigentlichen Probleme reden.»
Abel nickt. «Stimmt. Und nebenbei wolltest du noch wissen, warum ich die Welt nicht einfach nach meinen Vorstellungen verändere.» Er versucht ein lässiges Lächeln, aber es wirkt unentspannt. «Die ebenso traurige wie schlichte Erklärung lautet: Ich kann es nicht. Meine Kräfte lassen nach. An schlechten Tagen habe ich das Gefühl, dass ich im Stundentakt schwächer werde. Außerdem bin ich nicht mehr so beweglich wie früher. Das Tempo der Menschheit hat so gnadenlos zugenommen, da komm ich einfach nicht mehr mit.»
Ich glaube, mich verhört zu haben. «Gott kann mit seiner eigenen Welt nicht mehr Schritt halten?»
Abel nickt. «Ja, so ist es. Was denkst du, warum ich Herzklabaster habe? Und warum ich aus eigenem Antrieb mit einer Therapie beginne? Glaub mir, ich würde auf diesem Planeten sehr gern eine Menge Dinge verändern, aber mir sind die Hände gebunden. Und zwar seit dem Tag, als ich in den Körper von Abel Baumann geschlüpft bin.»
Mir geht das gerade alles zu schnell. Selbst in ausgeschlafenem Zustand ist Abels komplexe Persönlichkeit nicht leicht zu durchschauen. «In Abel Baumann geschlüpft heißt, du hast dir seinen Körper geliehen, richtig?», fasse ich mühsam zusammen.
«Genau so», antwortet er.
«Wobei ich da noch eine Frage habe», fahre ich fort. «Wenn Gott in einen Menschen geschlüpft ist, was passiert dann eigentlich währenddessen mit der Seele dieses Menschen? Ist die auch noch im Körper? Weiß die etwas von der Anwesenheit Gottes?»
«Die geht spazieren», erwidert Abel prompt.
«Spazieren. Aha. Und was heißt das?»
«Ähnlich wie im Traum. Da gehen die Seelen ja auch manchmal spazieren. Oder wenn man sich an einen fernen Ort wünscht. Dann ist die Seele oft schon da, der Körper aber noch nicht.» Abel mustert mich kritisch. «Das glaubst du mir jetzt nicht. Richtig?»
«Na ja. Ich dachte bislang immer, die Seele würde den Körper erst verlassen, wenn der Mensch tot ist.»
Abel winkt ab. «Vergiss es! Seelen sind unberechenbar. Wirklich! Die machen, was sie wollen.
Manche schweben umher und möchten gar nicht durch einen Körper begrenzt werden. Andere lassen sich keine einzige Wiedergeburt entgehen. Wieder andere leben in Pflanzen, Tieren, Gewässern oder auch in den Elementen. Manche sind quirlig wie ein Vogelschwarm, andere behäbig wie eine Elefantenherde.»
Ich atme geräuschvoll aus. «Das klingt alles ziemlich ... abgefahren.»
«Du wolltest es wissen», sagt Abel schulterzuckend.
Ich nicke. «Gut, und als du dir Abel Baumanns Körper geliehen hast, ist dir aufgefallen, dass irgendwas aus dem Ruder läuft.»
«Genau», erwidert Abel. «Wobei die Probleme schon länger schwelen. Ich habe es nur nicht gleich gemerkt. Das lag wohl daran, dass alles völlig harmlos anfing. Millionen Jahre passierte auf der Erde praktisch ... nichts. Es gab nicht die geringste Innovation. Lag sicher auch daran, dass die ersten Menschen ziemliche Doofnüsse waren. Für die Erfindung des Faustkeils haben die Torfnasen sechshunderttausend Jahre gebraucht. Das musst du dir mal vorstellen! Sechshunderttausend Jahre! Für einen Faustkeil! Ich dachte also, ich tue meinen Schäfchen was Gutes und spendiere ihnen ein paar Erfindungen: Pfeil und Bogen, Kleidung, den Feuerstein und das Rad. All das natürlich im Laufe einiger Jahrtausende, ich wollte die Menschen ja nicht überfordern.» Abel streicht über seinen Dreitagebart. «Ich gebe zu, ein wenig Egoismus war auch im Spiel. Es ist wahnsinnig öde, Leuten zuzusehen, die sich keinen Millimeter weiterentwickeln. Jedenfalls scheinen meine Geschenke an die Menschheit so eine Art Initialzündung gewesen zu sein. Mit der Zeit versuchten sich die Menschen selbst als Erfinder. Und die Erfolge waren so beachtlich, dass ich eines Tages wieder eingreifen musste. Die Menschen erfanden nämlich nicht nur nützliche und sinnvolle Dinge, sie hatten auch eine Menge Ideen, um einander wirkungsvoll zu betrügen, zu bestehlen und zu töten.»
«Eingreifen heißt, du hast sie bestraft?», vermute ich.
«Wofür sollte ich sie bestrafen? Ich hatte ihnen ja nichts verboten. Also hatten sie auch nichts Unrechtes getan. Außerdem war ich damals von der naiven Vorstellung beseelt, ich könnte die Menschheit behutsam auf den rechten Weg führen. Deshalb versuchte ich, die Menschen in ihren noblen Bemühungen zu unterstützen. Nicht nur bei wichtigen Erfindungen und Entdeckungen hatte ich die Finger im Spiel, ich habe auch bei der Geburt einmaliger Kunstwerke, wichtiger politischer Entscheidungen oder epochaler Reden geholfen. Immer in der Hoffnung, die Welt damit besser machen zu können.»
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