Er verstummt abrupt, denn seine frischgebackene Ehefrau hebt abwehrend die Hände. Ihr Gesicht wirkt nun wie versteinert. Wahrscheinlich ahnt sie, dass ihre Schwester die Wahrheit sagt. Niemand versaut eine Hochzeit ohne triftigen Grund.
Die Schwester lässt sich schluchzend auf ihren Stuhl sinken. «Was bist du nur für ein Schwein!», stößt sie hervor. «Keine drei Tage ist es her, da hast du noch in meinem Bett gelegen und davon geredet, dass du die Hochzeit am liebsten absagen würdest.»
Eine ältere Dame legt ihren Arm um die Verschmähte und reicht ihr ein winziges Spitzentaschentuch. Gleichzeitig beginnt nun auch die Braut zu schluchzen. «War das etwa die Nacht, in der du angeblich kurzfristig nach Hamburg musstest?»
Während der Bräutigam nervös zwischen den beiden Frauen hin und her schaut und fieberhaft überlegt, wie er die Situation entschärfen kann, erwacht die Gesellschaft aus der Schockstarre. Hier und da wird getuschelt, zwei junge Frauen, wahrscheinlich Brautjungfern, springen auf und kümmern sich um die Frischvermählte, deren Make-up gerade von Tränenbächen weggespült wird. Die betrogene Schwester weint sich unterdessen an der Schulter der älteren Dame aus.
Rasch bemüht sich das Personal, den Glasschaden ohne viel Aufhebens zu beseitigen. Zudem werden eilig Schnäpse kredenzt. Wahrscheinlich sollen sie die Anwesenden beruhigen. Freddy scheint jedenfalls zu hoffen, dass er mit Spirituosen eine weitere Eskalation vermeiden kann. Er irrt.
Mit leisem Surren löst sich ein elektrischer Rollstuhl von der Festtafel, in dem ein vierschrötiger Kerl um die sechzig sitzt.
Während sich das Gefährt erstaunlich schnell auf den Bräutigam zubewegt, zieht der Fahrer einen Krückstock hervor, um ihm dem Hallodri mit den Worten «Du gottverdammte Drecksau» über den Schädel zu ziehen.
Der Schlag verfehlt sein Ziel, denn der Bräutigam springt auf und weicht dem Angreifer aus.
Geschrei unter den Gästen, ein Tumult entsteht.
«Nein! Vater! Bitte nicht!», ruft die Braut.
Der Mann im Rollstuhl hört nicht hin. Er ist durch die Wucht des Schlages nach vorne gekippt. Sein Toupet hat sich gelöst und versperrt ihm nun die Sicht. Er berappelt sich hastig und reißt dabei den Krückstock hoch. Der Knauf liegt zwischen den Beinen des Bräutigams, dessen Fuß in der Rückenlehne seines umgekippten Stuhls feststeckt. Mit voller Wucht rammt der Brautvater dem Bräutigam den Knauf in die Weichteile.
Der Getroffene gibt keinen Mucks von sich, wirkt aber ungeheuer erstaunt, während sein Gesicht zügig die Farbe von Hüttenkäse annimmt. Außerdem presst er vor Schmerz die Beine zusammen, womit er den Stock mitsamt Knauf einklemmt. Wütend und ruckartig zieht der Brautvater den - wie man nun sieht -erstaunlich großen Knauf zwischen den Beinen des Bräutigams hervor. Diesmal geht ein gedämpftes «Uhh» durch die Reihen. Wahrscheinlich haben die meisten hier den gleichen Gedanken: Ein Schlag auf den Kopf wäre angenehmer gewesen.
Der Bräutigam zeigt immer noch keine Reaktion. Schließlich huscht ein entrücktes Lächeln über sein Gesicht, er geht in die Knie und fällt mit dem Gesicht voran in seine Familienportion Tiramisu.
Während die Gäste aufspringen und ich Freddy zum Telefon eilen sehe, greift Baumann nach seinem Koffer. «Ich würde gerne weg sein, bevor die Polizei hier ist. Das gibt sonst ja doch wieder nur Ärger.»
Besorgt schaue ich Baumann an. «Im schlimmsten Fall kann ein Schlag in die Hoden so etwas wie einen Reflextod auslösen.»
«Keine Sorge», beschwichtigt Baumann. «Er braucht jetzt nur ganz viel Eis und noch mehr Geduld. Wenn das Erbrechen und der Schüttelfrost vorbei sind, hat er das Schlimmste bereits überstanden. Jedenfalls wird er die Hochzeitsnacht nie vergessen.» Baumann deutet mit einem Kopfnicken zur Tür. «Was ist? Wollen wir los?»
Als unser ICE bereits in voller Fahrt durch die Landschaft brettert, habe ich Baumanns Taschenspielertricks analysiert und bin nun sicher, das Puzzle zusammensetzen zu können. Ich vermute, dass mein Patient nicht mit einer derartigen Eskalation des Abends gerechnet hat, vielleicht aber schon mit einem kleinen Eklat. Ich könnte mir nämlich vorstellen, dass Baumann von der Affäre der Schwester mit dem Bräutigam wusste, so wie wahrscheinlich fast jeder am Tisch und womöglich auch Freddy, der es Baumann gesteckt haben könnte. Die Hoffnung auf das, was Baumann eben eine gute Show genannt hat, war also nicht unbegründet. Und Baumann musste auch damit rechnen, dass ich nach seiner Entlassung aus dem Polizeigewahrsam direkt informiert werden würde. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis ich bei Freddy auftauchen würde. Mit Baumanns angeblicher Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, hatte das natürlich nichts zu tun.
Zufrieden nippe ich an meinem Wein. Wir sind die einzigen Gäste im Bordrestaurant. Mit einem saftigen Trinkgeld hat Baumann den Kellner dazu bewegen können, uns zu dieser späten Stunde noch Brot und Käse zu servieren. Außerdem stehen fünf Viertelliter-Fläschchen Rotwein am Fenster, die Baumann mit den Worten «Ist ja nicht mehr als eine normale Flasche» auf Vorrat gekauft hat. Ich glaube, er hat sich absichtlich verrechnet.
Auf dem Weg zum Bahnhof ist der erste Schnee gefallen. Große Flocken haben die Stadt binnen weniger als einer halben Stunde in ein mattes Weiß getaucht. Momentan ist die Schneehaut noch dünn wie ein Neglige, aber schon morgen früh könnte eine dicke Decke daraus geworden sein.
Im Fahrtwind des Zuges wirbeln die Schneeflocken am Fenster vorbei, als würde draußen ein Sturm toben. Ich betrachte das Schauspiel und denke daran, dass Weihnachten vor der Tür steht. Bald wird auch dieses Jahr im Regal der Geschichte verschwinden und dort langsam verstauben. Die Zeit ist schon ein seltsames Ding.
«Gegen Weltverlorenheit hilft übrigens Wein», sagt Baumann unvermittelt und gießt mir großzügig ein.
Seine Worte reißen mich aus den Gedanken. «Sie schulden mir einige Erklärungen», stelle ich fest.
Baumann nickt. «Ich weiß. Morgen. Wir trinken und essen jetzt was, dann ruhen wir uns aus, und morgen beantworte ich Ihre Fragen.» Er sieht, dass ich gerne sofort reden würde und fügt hinzu: «Es war ein sehr langer Tag.»
Das stimmt. Ich spüre es an einem unangenehmen Ziehen in der Nasengegend. Trotzdem muss Baumann mir heute noch erklären, wie er das Geld für die Reise und mein fürstliches Honorar aufgetrieben hat. Ich möchte nämlich nicht mitten in der Nacht von der Bahnpolizei aus dem Abteil gezerrt werden, weil Baumann irgendwelche krummen Dinger gedreht hat. Wäre uns nicht die Hochzeitsschlägerei dazwischengekommen, hätte ich ihn schon früher gefragt. «Das Geld für diese Reise. Und mein Honorar. Ist das Ihr Erspartes?»
Baumann hält inne, überlegt und antwortet: «Nein, warum fragen Sie?»
Ich schweige und sehe ihn prüfend an.
Baumann stutzt, denkt nach, dann versteht er. «Glauben Sie etwa, dass ich es gestohlen habe?»
Ich ziehe die Schultern hoch. «Keine Ahnung. Sagen Sie es mir.»
«Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen. Ich gehe zwar nicht immer den geraden Weg. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich krumme Dinger drehe.»
«Schön. Dann sagen Sie mir doch einfach, woher Sie es haben.»
Er greift nach einem der Weinfläschchen, dreht den Verschluss ab und schenkt uns nach. «Nur damit Sie beruhigt sind: Ich habe das Geld gewonnen.»
Meine Augenbrauen wandern ein paar Millimeter nach oben. «Gewonnen?»
«Ja. Ganz legal gewonnen», fährt er fort. «Würde ich es drauf anlegen, könnte ich jedes Casino der Welt ausräumen. Will ich aber nicht. Ich bleibe bescheiden und verhalte mich unauffällig.» Er grinst.
«Und wenn ich mal etwas Geld außer der Reihe brauche, gehe ich einfach in die nächste Spielbank und hebe ein bisschen was ab.»
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