«Das war er», sagt Baumann und dreht nun doch den Kopf zu mir. «Das war der Höhepunkt ihres Lebens.»
Ich nicke. «Zumindest der vorläufige Höhepunkt.»
Abel schüttelt energisch den Kopf. «Nein. Der absolute. Das gerade war der absolute Höhepunkt ihres Lebens.»
«Aber es weiß doch niemand, was noch kommt», gebe ich irritiert zu bedenken.
«Doch. Ich schon. Ich weiß es», entgegnet Baumann. «Sie wünscht sich Kinder, kann aber keine bekommen. In ein paar Jahren wird sie das frustriert einsehen. Ihre Ehe existiert zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Dieser Kerl mit dem Berg Tiramisu vor der Nase, den sie heute geheiratet hat, wird eine Geliebte haben und sich scheiden lassen, um mit der anderen Frau ein neues Leben zu beginnen. Zu diesem Zeitpunkt wird die andere Frau von ihm schwanger sein. Bei dieser anderen Frau handelt es sich um die Schwester unserer schönen Braut. Und das wird ihr für alle Zeiten das Herz brechen.»
Offenbar hat mein Patient einen psychotischen Schub. «Sind Sie deshalb hier?», frage ich. «Ist das so eine Art göttliche Mission? Wollen Sie die Braut vielleicht vor einer unglücklichen Zukunft bewahren?»
«Soll ich?», fragt Baumann launig und kippt seinen Grappa in einem Zug herunter.
«Nur zu!», sage ich und mache eine einladende Handbewegung.
Er mustert mich. «Sie wollen von mir tatsächlich einen ... Gottesbeweis?»
Ich wiege den Kopf hin und her. Wenn es helfen würde, Baumanns psychischen Zustand zu verbessern, dann hätte ich gegen unkonventionelle Maßnahmen nichts einzuwenden. Aber deshalb glaube ich noch lange nicht, dass er tatsächlich die Macht hat, den Lauf der Welt zu verändern. Wahrscheinlich wird Baumann mir einen Taschenspielertrick servieren, indem er eine vermeintlich magische Handbewegung macht und dann behauptet, damit habe er das Leben der Braut zum Besseren gewendet. Man könnte ihm nicht einmal das Gegenteil beweisen, weil es Jahre dauern würde, bis man es nachprüfen könnte. Da es mich dennoch interessiert, wie sich mein Patient aus der Affäre zieht, sage ich locker: «Ach, ja. Warum eigentlich nicht?»
Baumann schaut mich an und scheint zu überlegen, ob er mir meine Bitte erfüllen soll. «Wollen Sie gleich die große Show, oder reicht Ihnen eine kleine Kostprobe?», fragt er lächelnd.
«Bitte keine Umstände», sage ich.
«Gut. Ich werde es mir überlegen», entgegnet Baumann abwiegelnd. «Aber zunächst würde ich gerne etwas anderes mit Ihnen besprechen.»
Er winkt Freddy an unseren Tisch und drückt ihm mit den Worten «Danke, stimmt so» einen Schein in die Hand.
Dann zieht er einen Umschlag aus der Innentasche seines Mantels und reicht ihn mir. «Fünfzehnhundert Euro.»
«Wofür?», frage ich.
«Ihr Honorar. Dafür, dass Sie mich nach München begleiten.»
Ich schaue auf den Umschlag, dann wieder zu Baumann.
«Übermorgen wären wir wieder zurück. Wenn Ihnen das Honorar nicht hoch genug ist, sagen Sie es bitte. Spesen gehen natürlich extra.»
«Und was wollen wir in München?»
«Meine Familie besuchen. Sie möchten meine Familie doch gern kennenlernen, um mehr über mich zu erfahren, oder etwa nicht?»
«Das habe ich nie gesagt.»
«Aber gedacht», sagt Baumann. Offenbar mache ich ein verwundertes Gesicht, denn er fügt hinzu: «Keine Sorge, ich kann nicht automatisch Ihre Gedanken lesen. Nur, wenn Sie intensiv an mich denken. Oder wenn ich mich auf Sie konzentriere.»
Immer noch schaue ich ihn verständnislos an.
«Na, irgendwie muss ich ja mit meinen Geschöpfen in Kontakt treten können - und meine Geschöpfe mit mir.»
«Ach, Sie meinen, als ich diesen Gedanken hatte, war das so etwas wie ein Gebet», sage ich und bin beeindruckt von der Intelligenz meines Patienten. Es liegt nahe, dass ich mir sein familiäres Umfeld anschauen möchte. Um das zu vermuten, muss man kein Hellseher sein. Dass er mir seine richtige Vermutung aber als ein kleines Wunder verkauft, finde ich bemerkenswert.
Baumann zuckt mit den Schultern. «Keine Ahnung. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich persönlich mache mir nicht viel aus Religion. Außerdem beten die meisten Leute sowieso nur deshalb, weil sie hoffen, dass ich ihre Probleme löse oder Ihnen Plätze im Paradies besorge.»
Er greift neben sich, fördert einen kleinen Koffer zutage und stellt ihn auf den Tisch. «Ich dachte, wir nehmen den Nachtzug und fahren morgen Abend wieder zurück. Dann sparen wir das Hotel.»
Er sieht, dass ich verwundert auf seinen Koffer blicke.
«Ich habe nur das Nötigste eingepackt», erklärt er. «Ich dachte, wir kaufen Ihnen am Bahnhof eine Zahnbürste und das bisschen Krimskrams, was man sonst noch so braucht. Wir können aber auch noch mal bei Ihnen zu Hause vorbeifahren, wenn Ihnen das lieber ist.»
«Nein, ist schon okay», sage ich und denke daran, dass Ellen wahrscheinlich immer noch in meiner Wohnung auf mich wartet. Wie ich sie kenne, gibt sie nicht so leicht auf. Der Nachtzug nach München kommt mir also in gewisser Hinsicht sogar gelegen.
«Schön», fasst Baumann zusammen. «Freut mich sehr, dass Sie dabei sind.»
Eher nebenbei betrachtet er das Geschehen an der Festtafel. Ich folge seinem Beispiel und sehe eine Hochzeitsgesellschaft beim Schlemmen. Nichts Besonderes. Eine Weile schauen wir schweigend zu.
«Wen genau werden wir denn in München treffen?», frage ich.
«Ich habe einen Sohn», erwidert Abel. «Er weiß, dass ich mich in Therapie begeben habe. Und er möchte Sie gern kennenlernen.» Abel macht eine Kunstpause. «Und dann ist da noch die Mutter.» Er überlegt einen kurzen Moment. «Wir haben nicht das beste Verhältnis, würde ich sagen.»
«Sind Sie geschieden?», frage ich.
«Wir waren nie verheiratet. Unser Kind ist das Ergebnis einer Affäre. Es ist bei ihr und ihrem Mann aufgewachsen.»
Ich komme nicht dazu, mir über Baumanns Familienbande Gedanken zu machen, denn in diesem Moment ist ein dumpfer Schlag zu hören, gefolgt von einem lauten Klirren. Gläser kippen um, eines fällt zu Boden, wo es zerplatzt und seinen Inhalt über die Terracottafliesen verteilt. Atemlose Stille. Selbst die noch anwesenden Kinder geben keinen Laut von sich.
Eine junge, drahtige Frau mit kurzen Haaren und einem schlichten Abendkleid ist für diese Stille verantwortlich. Sie hat gerade mit ihren kleinen harten Fäusten auf den Tisch gehauen und damit das Geschirr zum Klingen und die Gäste zum Verstummen gebracht.
Nun steht sie mit vor Zorn gerötetem Gesicht und zusammengekniffenen Lippen da. Sie stützt sich mit ihren immer noch geballten Fäusten auf der Tischplatte ab. Das Weiß an den Knöcheln ist hervorgetreten. Die Anspannung der jungen Frau vibriert im Raum, weshalb niemand wagt, das Schweigen zu brechen.
Schließlich tut sie es selbst.
«Ich kann das nicht», bringt sie mühsam hervor. «Ich kann nicht mit ansehen, wie du meine Schwester heiratest, als würde es unsere Liebe überhaupt nicht geben.»
Die Köpfe drehen sich abrupt zum Bräutigam, zugleich ist ein ebenso erstauntes wie entsetztes kollektives Einatmen zu vernehmen.
Der Bräutigam sitzt vor seinem absurd großen Teller mit Tiramisu. Er hat kurz vor dem Ausbruch der jungen Frau den Löffel in den Mund gesteckt und ist in dieser Haltung erstarrt. Jetzt, wo alle Augen auf ihn gerichtet sind, zieht er in Zeitlupe den Löffel aus dem Mund und schluckt schwer. Er wirft einen vorsichtigen Blick zu seiner Frau, die ihn in ebenso banger wie hoffnungsvoller Erwartung ansieht.
«Das ist eine Lüge», sagt er mit heiserer Stimme. Es klingt wie: Lass uns später darüber reden, Schatz.
Die Braut blinzelt, ihre Augen bekommen einen feuchten Glanz.
«Glaub mir! Sie lügt», bekräftigt er ängstlich. «Es ist nichts zwischen uns gewesen. Rein gar nichts! Bitte, Liebling, ich ...»
Читать дальше