Wenn er sich auf einen der Ankertürme retten könnte, würde er vermutlich lange durchhalten, dachte er. Dort gab es ganz gewiss keinen Schwertkämpfer, der ihn im Duell Mann zu Mann besiegen könnte. Doch Starkfuß würde die enge Treppe nicht hinaufkommen.
Fackellicht schimmerte auf Bronze. Einige Männer, die sich hinter große Schilde duckten und dabei ihre Speere vorreckten, näherten sich ihnen. Die Speere waren lang. Sie könnten dem Adler gefährlich werden. Jetzt schlossen sie die Schilde zusammen. Sie überlappten sich wie die Schuppen eines Fisches und bildeten einen Wall aus Holz und Bronze.
Asfahal sah, dass die Beine der Krieger vom Knie abwärts ungepanzert waren. Er sollte sie reizen, damit sie aus ihrer Formation ausbrachen. Dafür müssten sie aber noch etwas näher kommen. Er erinnerte sich daran, wie Bidayn von den seltsamen Beleidigungen erzählt hatte, die Menschenkinder benutzten. Abstruse Behauptungen über Tiere oder Mütter oder Fäkalien – wenn man die richtigen Worte wählte, dann reagierten Menschenkinder völlig ohne Verstand. Leider hatte er nur ein paar Brocken ihrer Sprache gelernt. Schließlich hatten sie diese Nacht den Tod bringen und nicht plaudern wollen.
Weitere Krieger erschienen auf dem dunklen Hof und reihten sich in den Schildwall ein. »Ich mit Hund eurer Mutter habe geschlafen!«, rief Asfahal den Drusniern entgegen und hoffte, einen wilden Wutausbruch zu provozieren.
Die Worte hatten eine andere Wirkung als erwartet. Der Schildwall verharrte. Asfahal hörte die Krieger tuscheln.
Er durfte nicht länger warten. Immer mehr Kämpfer reihten sich in die Formation ein. Sie würden ihn und Starkfuß einfach umringen, wenn er nichts unternahm. Er stürmte vor, machte eine tiefe Grätsche und stieß sein Schwert unter den Schilden hindurch. Speere zuckten vor und stießen über ihn hinweg, während seine Klinge Fleisch und Knochen zerteilte. Zwei Krieger stürzten schreiend. Eine Lücke klaffte im Wall. In diesem Moment stieß der flügellahme Adler einen wilden Schrei aus, erhob sich und stürmte mit wippenden Schritten ebenfalls den Drusniern entgegen. Sein mächtiger Schnabel schmetterte auf Bronzehelme, seine Krallenfüße rissen Männer zu Boden. Er brach durch die Formation der Feinde, und Asfahal folgte ihm.
Dicht hintereinander liefen sie in Richtung der breiten Terrasse, auf der die lange Halle stand. Männer mit Fackeln sammelten sich dort. Ein Pfeil verfehlte den Elfen um zwei Fingerbreit, Starkfuß hatte weniger Glück. Etliche Geschosse trafen ihn. Der Adler pickte nach Pfeilen, die ihn getroffen hatten, und riss sie sich aus dem Fleisch. Asfahal überholte ihn und versuchte, ihn gegen die Geschosse zu schützen. Einige Pfeile schlug er mit dem Schwert aus der Luft, doch dadurch wurde er selbst mehr und mehr zum Ziel der Bogenschützen. Die Speerträger, die den Schildwall gebildet hatten, hatten sich von ihrem Schreck erholt und gingen erneut gegen sie beide vor.
Als sie bedrohlich nahe waren, ging Starkfuß erneut zum Angriff über. Doch jetzt zeigte sich der Wall aus Bronze unerschütterlich. Die Krieger knieten nieder, ihre Speere auf die Brust des großen Vogels gerichtet, der nicht mehr in den Himmel steigen konnte.
»Nicht!«, schrie Asfahal, als er sah, wie sich Starkfuß mit Todesverachtung den Speerspitzen entgegenwarf. Ein Pfeil schrammte über seinen Handrücken, ein zweites Geschoss zerrte an seinem Haar. Neue Bogenschützen waren aus dem Dunkel der Nacht aufgetaucht. Sie nahmen ihn nun von drei Seiten unter Beschuss.
Noch bevor Starkfuß auf die Linie der Menschenkinder auftraf, steckten schon mehrere Speere tief in seiner Brust. Dennoch riss er einige Krieger mit sich zu Boden. Selbst tödlich verwundet, hackte sein Schnabel nach dem warmen Fleisch der Feinde.
Ein Schatten fiel vom Himmel, mitten in das Getümmel um den sterbenden Vogel. Mondlicht brach sich auf der silbernen Klinge, die Starkfuß durch das linke Auge tief in den Schädel drang. Die Menschenkinder schrien in Panik auf. Und dann gebar die Nacht weitere Schatten und funkelnde Klingen.
»Und wo ist das Traumeis?«
Kolja schenkte ihm ein kühles Lächeln. »Wenn ich dir das sage, welchen Grund hättest du, mich am Leben zu lassen. Ich hatte gehofft, dass du mir verzeihen könntest. Wie ich bereits sagte, es war mein Verrat, der dich zu einem Mann mit Weib und Kind und letztlich sogar zum Unsterblichen gemacht hat.«
Volodi atmete schwer ein. Er sollte Kolja eigentlich nicht verzeihen. Und doch hatte das Schlitzohr es geschafft, ihn für sich zu gewinnen. Das Traumeis – es war wie sein Name. Es beflügelte zu großen Träumen, und zugleich jagte es Volodi eisigen Schrecken ein. Er wusste, er war nicht der Mann, der dazu geschaffen war, mit diesen wundersamen Kristallen die Welt zu verändern. Ihm fehlten die Visionen. Aber Aaron, wenn er an das Traumeis gelangte, würde er es nutzen, um die Daimonen ein für alle Mal zu vertreiben und allen drei Welten Frieden zu schenken! Er dachte an die gefiederte Schlange mit dem Goldenen Kopf, die dem Blutteich bei der Pyramide entstiegen war. Kannten auch die Zapote das Geheimnis dieser Kristalle? Hatten sie so dieses Ungeheuer erschaffen?
»Hast du diesen seltsamen Wolkensammler nach deinem Willen erschaffen?«, fragte er schließlich.
Kolja schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, es waren seine eigenen Wünsche. So wie bei mir. Jeden Tag habe ich dem Gesicht, das ich verloren hatte, nachgetrauert und meinem Arm …«
Es fiel Volodi immer noch schwer, in dem Mann mit dem gelockten, goldenen Haar und dem ausdrucksvollen Gesicht Kolja wiederzuerkennen. Nur die Augen waren ihm vertraut. Und das Gefühl, dass er ihm nicht trauen konnte. Kolja war ein zuverlässiger Gefährte, solange man mit ihm denselben Weg ging und ihm nützlich war. Aber kurz vor dem Ziel wurde es gefährlich. Er war niemand, der teilte. Und im Augenblick vermochte Volodi nicht einmal zu sagen, welches Ziel der Söldner anstrebte.
»Was willst du wirklich?«
Kolja schenkte ihm ein breites Grinsen. »So gefällst du mir. Ein Mann der klaren Worte! Ich will meine Bordelle zurück. Und ich will, dass du bei dem Leben deines Sohnes schwörst, dass du dich niemals an mir rächen wirst. Ich will die Zinnernen um mich versammeln und der Herrscher über alle Hurenhäuser der Stadt sein. Für den Anfang …«
»Und dann?«
Der blonde Hüne zuckte mit den Schultern. »Weiß ich noch nicht. Du kennst mich, ich bin niemand, der die Hände in den Schoß legt. Es wird neue Ziele geben. Vielleicht brauche ich die Unterstützung der anderen Unsterblichen.«
Volodi spürte, dass Kolja ihn anlog. »Nur ein paar Freudenhäuser? Für einen Schatz, der die Welt verändern wird …?«
»Ich habe noch mehr zu bieten. Ich weiß, wo Tarkon Eisenzunge sich versteckt. Was denkst du, wären die anderen Unsterblichen mir nicht wohlgesinnt, wenn ich euch helfen würde, diese Plage vom Himmel zu fegen?«
Hoffte Kolja etwa darauf, den Platz des Piraten einzunehmen, wenn Tarkon durch die vereinigten Wolkenflotten der Unsterblichen besiegt wurde? War er so kühn, davon zu träumen, sich zu einem Herrscher aufzuschwingen? Zu einem achten Unsterblichen vielleicht? Draußen erklangen Hörner.
»Ich habe mich verändert«, sagte Kolja leidenschaftlich. »Es ist nicht nur mein Körper. Ich habe die Dunkelheit abgelegt, die ich in meinem Herzen getragen habe. Sie hat sich dort eingenistet, als mir mein Gesicht in Fetzen geschlagen wurde. Ich will Gutes tun! Die Idee mit den Freudenhäusern, die wir hatten, war durch und durch gut. Wir behandeln die Frauen anständig, nicht so wie diese verdammten Zuhälter aus Truria. Und wir bieten den Männern, die für uns ihre Haut riskiert haben, einen guten Lebensabend. Jeder gewinnt bei dieser Lösung. Warum zögerst du noch? Wir könnten …«
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