»Ein Kaufmann oder Spion«, wiederholte Ymor. »Ein Spion wäre mir lieber. Spione bezahlen gleich zweimal — weil man für ihre Entlarvung eine Belohnung bekommt. Was meinst du, Withel?«
Der zweitgrößte Dieb von Ankh-Morpork saß Ymor gegenüber, hatte das eine Auge halb geschlossen und hob die Schultern.
»Ich habe den Kahn überprüft«, erwiderte er, »ein freies Handelsschiff, das gelegentlich die Braunen Inseln anläuft. Die Leute dort sind Wilde und haben keine Ahnung von Spionen. Und Kaufleute stecken sie vermutlich in den Kochtopf.«
»Eigentlich sah er eher wie ein Händler aus«, warf Wa ein. »Abgesehen davon, daß er nicht dick ist.«
Flügel knisterten am Fenster. Ymor stemmte sich hoch, durchquerte das Zimmer und kehrte mit einem großen Raben zurück. Nachdem er die Nachrichtenkapsel vom Bein gelöst hatte, flog der Vogel zu seinen Artgenossen, die zwischen den Dachsparren hockten. Withel sah dem Tier skeptisch nach. Ymors Raben standen in dem Ruf, ihrem Herrn treu ergeben zu sein, und seine eigenen Erfahrungen bestätigten das: Withels Versuch, sich zum größten Dieb von Ankh-Morpork zu befördern, hatten der rechten Hand Ymors das linke Auge gekostet. Aber wenigstens nicht das Leben. Ymor warf einem Mann nie seinen Ehrgeiz vor.
»BI 2«, sagte der Meisterdieb, legte die kleine Phiole beiseite und entrollte den Zettel.
»Gorrin die Katze«, sagte Withel automatisch. »Im Glockenturm des Tempels der Geringen Götter postiert.«
»Er schreibt, daß Hugo den Fremden zur Gebrochenen Trommel gebracht hat. Nun, das sind gute Neuigkeiten. Breitmann ist ein — Freund von uns, nicht wahr?«
»Ja«, brummte Withel, »solange für ihn was dabei herausspringt.«
»Offenbar gehörte heute auch dein Mann Gorrin zu seinen Kunden«, sagte Ymor wie beiläufig. »Wenn ich sein Gekrakel richtig entziffere, berichtet er hier von einer Truhe mit Beinen.« Er musterte Withel über den Zettel hinweg.
Der zweitgrößte Dieb wandte den Blick ab. »Ich werde ihn dafür zur Rechenschaft ziehen«, versprach er leise. Wa sah, wie sich der ganz in
Schwarz gekleidete Withel zurücklehnte und dabei so harmlos wirkte wie ein Randland-Puma, der sich auf einem Dschungelast zum Sprung duckt. Er gelangte zu dem Schluß, daß Gorrin bald eine Reise zu den vielen Gottheiten in den multiplen Dimensionen des Jenseits bevorstand. Und er schuldet mir noch drei Kupfermünzen! dachte er.
Ymor zerknüllte den Zettel und warf ihn fort. »Wir sollten der Trommel später einen Besuch abstatten. Vielleicht probieren wir das Bier, das dein Mann so gern trinkt.«
Withel antwortete nicht. Ymors rechte Hand zu sein. Es war so, als werde man mit parfümierten Schnürsenkeln langsam zu Tode geprügelt.
•
Die Zwillingsstadt Ankh-Morpork, urbanes Zentrum am Runden Meer, war die Heimat von vielen Banden, Verbrechergilden, Syndikaten und ähnlichen Organisationen — einer der Gründe für ihren Reichtum. Die ärmeren Bürger auf der entgegengesetzten Seite des Flusses, in Morporks Irrgarten aus kleinen Gassen und dunklen Nebenstraßen, verdienten sich etwas zu ihrem geringen Einkommen hinzu, indem sie kleine Aufgaben für die rivalisierenden Banden wahrnahmen. Als Hugo und Zweiblum den Hof der Gebrochenen Trommel erreichten, wußten die Anführer der wichtigsten kriminellen Vereinigungen, daß sich jemand in der Stadt befand, der viel Gold besaß. Die Berichte der aufmerksamsten Spione enthielten Einzelheiten über ein Buch, das dem Fremden mitteilte, was er sagen sollte, und über eine Truhe, die sich von ganz allein bewegte. Diese Hinweise hielt man für absurd: Kein Zauberer, der solche Magie beschwören konnte, wagte sich näher als eine Meile an die Morpork-Docks heran.
Die meisten Bewohner der Stadt standen entweder gerade auf oder gingen zu Bett, und deshalb hatten nur wenige Personen Gelegenheit zu der Beobachtung, wie Zweiblum die Treppe der Gebrochenen Trommel herabkam. Als die Truhe hinter ihm erschien und selbstbewußt über die Stufen wankte, starrten die wenigen Gäste an den Holztischen argwöhnisch in ihre Becher und Krüge.
Breitmann trieb gerade den kleinen Troll an, der die Theke putzte, als das Trio an ihm vorbeimarschierte. »Lieber Himmel, was ist das denn?« platzte es aus ihm heraus.
»Acht einfach nicht darauf!« zischte Hugo. Zweiblum blätterte schon wieder in seinem Buch.
»Was tut er da?« fragte Breitmann und stemmte die Arme in die Hüften.
»Es legt ihm Worte in den Mund«, murmelte Hugo. »Klingt lächerlich, ich weiß.«
»Wie kann ein Buch jemandem Worte in den Mund legen?«
»Ich möchte eine Unterkunft, Zimmer, Quartier, Vollpension, sind die Räume sauber, ein Zimmer mit gutem Ausblick, was kostet eine Übernachtung«, sagte Zweiblum in einem Atemzug.
Breitmann sah Hugo an. Der Bettler hob die Schultern.
»Er hat viel Geld«, meinte er.
»Na schön. Drei Kupfermünzen. Und das Ding kommt in den Stall.«
»?« erwiderte der Fremde. Breitmann hob drei rote Finger, und daraufhin nickte der Vieräugige. Er griff in seinen Beutel, holte drei große Goldmünzen hervor und drückte sie Breitmann in die Hand.
Der Wirt starrte auf sie hinab — sie waren etwa viermal so viel wert wie die Gebrochene Trommel, Personal inklusive. Er richtete den Blick auf Hugo, der erneut die Schultern hob. Dann sah er den Fremden an und schluckte.
»Ja«, sagte er mit unnatürlich hoher Stimme, »und dann natürlich die Mahlzeiten. Äh. Verstehst du? Essen. Du hast doch sicher Hunger, wie?« Er vollführte entsprechende Gesten.
»Ässen?« wiederholte der kleine Mann.
»Ja.« Breitmann begann zu schwitzen. »An deiner Stelle würde ich in dem kleinen Buch nachsehen.«
Der Fremde öffnete es und strich mit dem Zeigefinger über eine Seite.
Breitmann las nicht sehr häufig, weil es ihm zuviel Mühe bereitete, aber jetzt beugte er sich vor und versuchte, die Schriftzeichen in dem Buch zu entziffern. Es gelang ihm nicht.
»Ähssen«, sagte der Reisende. »Ja. Schnitzel, Gulasch, Kotelett, Eintopf, Ragout, Frikassee, Hackfleisch, Auflauf, Knödel, Pudding, Fruchteis, Haferschleim, Würstchen, ich möchte kein Würstchen, Bohnen, ohne Bohnen, Beilagen, Grütze, Marmelade. Geflügelinnereien.« Er hob den Kopf und strahlte.
»Das alles?« fragte Breitmann unsicher.
»Es ist nur seine Ausdrucksweise«, sagte Hugo. »So spricht er eben. Frag mich jetzt bloß nicht nach dem Grund.«
Die Blicke aller Augen im Zimmer waren auf den Fremden gerichtet — bis auf zwei, die dem Zauberer Rincewind gehörten. Er saß in der dunkelsten Ecke und nippte an einem kleinen, halb gefüllten Krug Bier.
Seine Aufmerksamkeit galt der Truhe.
Beobachten Sie Rincewind.
Sehen Sie sich ihn genau an: dürr wie die meisten Zauberer, gekleidet in einen dunkelroten, mit stumpfen Pailletten besetzten Umhang, die abgewetzten Stickmuster mystischen Symbolen nachgebildet. Auf den ersten Blick betrachtet, wirkte er wie ein einfacher magischer Lehrling, der seinen Meister aus Trotz, Langweile und einer hartnäckigen Neigung zur Heterosexualität verlassen hatte. Aber am Hals trug er eine Kette mit dem bronzenen Oktagon, das ihn als Absolventen der Unsichtbaren Universität auswies — jenes Lehrinstituts für Magie, dessen in Raum und Zeit transzendenter Campus nie genau Hier oder Dort ist. Wer die Ausbildung beendete, nahm zumindest den akademischen Grad eines Magus ein, aber Rincewind hatte die Universität nach einem unglücklichen Zwischenfall mit nur einem Zauberspruch verlassen. Derzeit verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht, indem er sein Sprachtalent nutzte. Aus prinzipiellen Gründen hielt er nichts von geregelter oder gar anstrengender Arbeit, aber er zeichnete sich durch eine hintergründige Schläue aus, die viele seiner Bekannten an ein gerissenes Nagetier erinnerte. Außerdem: Er erkannte intelligentes Birnbaumholz auf den ersten Blick. Jetzt sah er es und konnte es kaum fassen.
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