Als die Königin auf den Falrach-Tisch blickte, sah sie all die Gesichter, für die die Spielsteine standen. Ein Meer von Gesichtern ... Beide Seiten hatten einander in den letzten Monden zu viel angetan. Ein Kampf war unvermeidlich. Aber vielleicht ließ sich ein Massaker verhindern.
Als Obilee, die Botin der Elfenkönigin, mit ihrem Vortrag endete, war Ganda sprachlos. Sie blickte in die weite Runde der Befehlshaber, die der junge Trollkönig zum Kriegsrat einberufen hatte. Sie alle sahen überrumpelt aus. Emerelles Vorschlag war verlockend.
»Du solltest unserer Beratung nicht beiwohnen, Obilee«, sagte Skanga sachlich. »Kehre zu deiner Königin zurück, wir werden ihr mitteilen, wie König Gilmarak sich entschieden hat.«
Die Elfenkriegerin verneigte sich formvollendet und ging davon.
»Sie fürchtet unsere Stärke«, sagte Slarag, ein junger Rudelführer der Trolle, der nach der Schlacht am Mordstein zu Ehren gekommen war.
Skanga strich sich nachdenklich über das Kinn. Ganda hatte schon öfter bemerkt, dass immer alle zuerst zu der Schamanin blickten und nicht zum König. Sie war es, die hier die Entscheidungen traf.
»Es gibt wenig, das Emerelle fürchtet. Und gerade, wenn sie schwach erscheint, sollte man sich besonders vor ihr hüten. Orgrim, wie stehen unsere Aussichten, sie in offener Feldschlacht zu besiegen?«
Der Trollherzog wirkte geistesabwesend. Sein Gesicht war von Falten durchzogen. Die Kämpfe bei der Nachtzinne hatten ihn bis ins Innerste erschüttert. Jeder im Heer wusste um die Morde, die der Elfenfürst Elodrin begangen hatte, und tausende Krieger brannten darauf, Rache zu nehmen.
»Das Heer der Elfen und ihrer Verbündeten hat an Kraft gewonnen. Sollten wir einen Übergang über die Shalyn Falah erzwingen wollen, dann besteht die Gefahr, besiegt zu werden. Gehen wir aber über die Flanken und suchen abseits der Brücke einen Weg ins Herzland, können wir unsere Übermacht zum Tragen bringen. Dann werden wir siegen.«
Ganda war mit Elija und Nikodemus zum Kriegsrat gekommen. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen. Aber sie musste Elija nur ansehen, um zu ahnen, was in ihm vorging. Emerelle hatte vorgeschlagen, statt einer Schlacht ein Duell auszutragen, um dem unnützen Blutvergießen ein Ende zu bereiten. Ganda hielt diese Entscheidung für sehr weise, doch musste man bei den Elfen stets auf Heimtücke gefasst sein.
»Welchen Krieger könnten die Elfen denn schicken?«, fragte König Gilmarak.
Ein heftiger Streit entbrannte. Die meisten Namen, die fielen, hatte Ganda noch nie zuvor gehört. Letzten Sommer hätte es nur einen Namen gegeben, dachte sie traurig.
Aus dem Augenwinkel sah Ganda, wie Elija hintersinnig lächelte. Dann erhob sich der Kommandant, denn unter den lauthals streitenden Trollen wäre seine Stimme untergegangen. Ganda ahnte, was er vorschlagen würde, und sie betete, dass er sich nicht durchsetzte. In der letzten Nacht hatte sie von Klaves geträumt. Er war in einen Abgrund gestürzt. Wenn König Gilmarak sich überreden ließ, den Elfen im Streit für die Trolle antreten zu lassen, dann würde sie Klaves niemals wiedersehen.
Kurz überlegte Ganda, ob sie von ihrem Traum erzählen sollte. Doch die Kriegsherren würden über Weiberträume nur lachen. Lediglich Skanga würde sie vielleicht ernst nehmen.
Sie erinnerte sich an ein Bild, das sie in Melianders verbotenem Buch in der Bibliothek von Iskendria gesehen hatte. Ein kopfloser Schwertkämpfer war auf eine Brücke getreten. Hatte Emerelles Bruder damit auf Ollowain hindeuten wollen? Sie dachte an die düstere Prophezeiung, die sie auf der Seite neben dem Bild gelesen hatte. Meliander schrieb dort über einen lebenden Toten, der erst im Tod ein Leben fand. Ollowain war ein lebender Toter. Ohne Zweifel hatte Meliander den Schwertmeister gemeint. Sie schluckte. Verzweifelt überlegte sie, wie sie gegen ein Schicksal ankämpfen könnte, das offenbar seit Jahrhunderten vorherbestimmt war.
Nur einmal in Zehntausend Jahren
Wieder einmal war die Bestie zu ihrem Beobachtungspunkt nicht weit der weißen Burg zurückgekehrt. Sebastien spürte die Unruhe der Kreatur. Eben noch waren sie bei der tiefen Schlucht gewesen, wo sich die gegnerischen Heere versammelt hatten. Nie hatte Sebastien so viele Krieger gesehen! Dicht wie die Halme in einem Weizenfeld standen die Speere der Kämpfer, die sich versammelt hatten. Ohne Zahl waren die Bogenschützen. Weiter hinten warteten Reiter und Streitwagenfahrer. Auch gab es große Reittiere, deren Namen Sebastien nicht kannte, denen man hölzerne Türme auf die Rücken gebunden hatte, um sie zu wandelnden Burgen zu machen Auf der anderen Seite hatten sich zehntausende ungeschlachte Gestalten versammelt. Drei Schritt groß, mit groben Gesichtern und primitiven Waffen verstrahlten sie eine Kraft, die beängstigend war. Sebastien hatte in der Schlacht auf der Grasebene gesehen, wozu Trolle fähig waren. Es war unmöglich zu sagen, welche der beiden Seiten wohl bessere Aussichten auf den Sieg hatte. Die Schlacht versprach ein beispielloses Gemetzel zu werden. Und dennoch hatte sich die Bestie zurückgezogen, um wieder die weiße Burg zu belauern. Was gab es hier, das sie mehr ergötzte als tausendfacher Tod? Etwas in der Burg zog die Bestie an, wie ein Topf Honig Fliegen anlockte. Aber es gab dort auch etwas, das sie fürchtete. Konnte die Kreatur sterben? Den dritten Geisterhund hatten sie seit einer Weile nicht mehr gesehen. Hatte ihn jemand getötet? Wer mochte dazu fähig sein? Ein Held, der auf dieser Burg lebte? Die Bestie gab ihr abwartendes Lauern auf. Schnell wie der Wind eilte sie den hohen Mauern entgegen. Sebastien versuchte erst gar nicht, sich ihrem Willen zu widersetzen. Er hatte ihrer Macht längst nichts mehr entgegenzusetzen. Die ungezählten Lebenslichter, die sie verschlungen hatte, erlaubten ihr, ihn und ihren gemeinsamen Körper zu beherrschen. Wozu auch immer er in dieser Verbindung nötig gewesen war, die Kreatur war längst stark genug, ohne ihn zu existieren. Sie konnte inzwischen sogar fleischliche Gestalt annehmen, wenn sie es wollte. Von seinen Ordensbrüdern und -schwestern lebten nur noch drei. Ein paar Tage noch, dann wäre alles Menschliche in dem Geschöpf der Finsternis verloschen. Was würde die Bestie dann wohl unternehmen? »Du bist sehr neugierig, Sebastien. Manchmal denke ich, dass wir uns im Grunde recht ähnlich sind. Ich bin ein Sebastien, der alle Fesseln der Moral abgestreift hat.« Gar nichts haben wir gemeinsam , begehrte der Abt auf.
»Wie kannst du so sprechen, wo wir doch sogar einen Leib teilen?«, entrüstete sich die Kreatur. Sie glitt durch die dicken Burgmauern und gelangte in einen Saal, der von einem großen Brunnen beherrscht wurde. Prächtige Banner hingen von den Wänden. Vor einer hohen, zweiflügeligen Tür am anderen Ende des Saals stand ein einzelner Wachtposten, der sie offenbar noch nicht bemerkt hatte.
Witternd sah die Bestie sich um.
Wieder glitt sie durch eine Wand. Inmitten des Mauerwerks war ein niedriger Tunnel. Die Kreatur verharrte und starrte ins Dunkel. Etwas bewegte sich in der Finsternis. Ein Schatten. Was hatten sie da aufgespürt?
»Einen Bruder.«
Sebastien konnte die andere Gestalt nicht deutlich erkennen. Er hatte das Gefühl, dass diese Geschöpfe der Finsternis sich auf eine Weise austauschten, die es erlaubte, ihn auszuschließen.
»Wie überaus scharfsinnig du doch bist, Abt«, verhöhnte ihn die Kreatur. »Ich sagte doch, wir sind uns ähnlich. Aber du bist meiner Gesellschaft überdrüssig, nicht wahr?«
Was sollte das nun? Es war nicht meine Absicht, dich zu kränken. Ich wollte lediglich anmerken — ohne damit eine Wertung auszudrücken —, dass wir voneinander verschieden sind .
»Ach, Sebastien, wenn du ermessen könntest, wie viel Freude es mir bereitet, mit dir zusammen zu sein.«
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