»Alles zurück!« schrie Marcian verzweifelt. »Wir werden von den Barrikaden in den Gassen aus weiter kämpfen.«
Marcian ließ sich wieder in Deckung rutschen. »Wie lange gibst du der Stadt noch?« fragte ihn der Vampir.
»Wenn die Orks so weitermachen, halten wir morgen früh nur noch die Garnison. Sieht ganz so aus, als würde aus deiner Rache nichts mehr. Es wird jetzt schnell vorbei sein, es sei denn ...« Zischend zog ein Felsblock über ihre Köpfe. Es war an der Zeit, sich abzusetzen. Die Orks schienen zu merken, was vor sich ging. Ganz in der Nähe war das Heulen ihrer Kriegshunde zu hören. Geduckte Gestalten huschten zwischen den Mauerresten und zogen sich in die Stadt zurück.
»Zeit zu gehen, Vampir!« Mühsam zog sich Marcian an der Mauer hoch. Das Gewicht seiner Rüstung schien ihn zu erdrücken. Er war todmüde und hatte kaum noch die Kraft, den mächtigen Zweihänder aufzuheben, mit dem er in der Bresche gefochten hatte. »Ich kann nicht sagen, daß es nett war, dich gekannt zu haben, Zerwas. Fahr zum Namenlosen!«
Stolpernd hielt der Inquisitor auf die Häuser zu. Die Bürger hatten Karren in den Gassen quergestellt und Möbel auf die Straße geworfen, um Barrikaden zu errichten. Mühsam erklomm Marcian das vorderste Hindernis. Beißender Rauch zog durch die Stadt. Schon vor einer Stunde hatte er den Befehl gegeben, sich nicht mehr um die Brände zu kümmern. Er brauchte jetzt jeden, der eine Waffe halten konnte. Aus der Bresche ertönte Hundegekläff. Schon konnte Marcian die ersten der vierbeinigen Bestien erkennen, widerliche Geschöpfe mit langen Reißzähnen. Viele von ihnen trugen plumpe Lederpanzer um den Leib. Diese Kreaturen wollten nur eins: töten. Zerwas kam auf die Stellung zugerannt. Drei Kampfhunde waren ihm auf den Fersen. »Gebt ihm Feuerschutz!« schrie Marcian die Bürger hinter der Barrikade an. In der schweren schwarzen Rüstung kam der Vampir nur langsam voran. Mit einem Schlag nach hinten trennte er einem Hund, der zum Sprung ansetzte, die Vorderläufe ab. Aufheulend stürzte die Bestie, rollte sich mit wild in der Luft zuckenden Läufen auf dem Rücken, während die anderen beiden über sie herfielen und gnadenlos zerfleischten. Zerwas erreichte die Barrikade und zog sich mit einem Ruck an einem umgestürzten Schrank hoch. Dann sprang er auf der anderen Seite herab. Atemlos keuchte er: »Ich muß mit dir reden, Marcian.« Er zog den Inquisitor von der Barrikade in die Gasse.
»Was willst du?«
»Du hast gesagt ... daß du noch ... einen Weg ... siehst! Welchen?« Keuchend blickte ihn der Vampir an.
»Wenn ich ein paar Kämpfer hätte wie dich, Krieger, die beinahe unverwundbar sind ...« Marcians Stimme war zu einem Flüstern geworden. Er wußte, daß er allein für diesen Gedanken schon auf den Scheiterhaufen gehörte. Die Inquisition durfte niemals erfahren, was hier vor sich gegangen war. Doch auch dafür hatte er schon Vorbereitungen getroffen.
Zerwas überwachte den Abtransport der Verwundeten aus dem Siechenhaus der Therbuniten. Lange konnte dieses Viertel nicht mehr gehalten werden. Überall loderten Brände, und die Kampfhunde der Orks streunten durch die Straßen. Noch leisteten die Bürger auf den Barrikaden verzweifelten Widerstand, schossen aus den Fenstern der brennenden Häuser und warfen Felsbrocken und Balken von den Dächern auf die anstürmenden Schwarzpelze, doch schon hatte Marcian befohlen, eine neue Verteidigungslinie auf Höhe der alten Stadtmauer zu bilden. Der Vampir trug einen Mann über der Schulter, dem am Mittag der Arm amputiert worden war. Fluchend scheuchte er die anderen vorwärts. Zum dritten Mal machte die Kolonne von Trägern schon den Weg quer durch die Stadt. Die Barrikaden auf den Straßen verhinderten, daß man noch mit einem Karren bis zum Siechenhaus durchkam. Erst westlich des Platzes der Sonne waren die Wege wieder frei. Die Verletzten sollten in die Burg geschafft werden. Zerwas blickte zum Himmel. Noch immer standen finstere Wolkengebirge über der Stadt. Bald würde im Westen die Sonne untergehen. Dann konnte er Sartassa holen und beginnen. Es hatte lange gedauert, bis der Inquisitor ihn überredet hatte, doch würde er diesen verzweifelten Plan nicht ausführen, erschiene ihm die Stadt nicht schon jetzt verloren.
Beinahe wäre er gestolpert. Die Leiche eines kleinen braunhaarigen Mädchens lag quer in der Gasse. Die Hunde der Orks hatten ihr die Kehle herausgerissen. Ihr Körper war von Klauen und Zähnen gräßlich entstellt. Sein Entschluß stand fest. Er würde Marcian helfen!
»Wir werden ihnen nicht sagen, was sie wirklich sind«, flüsterte Zerwas Sartassa zu. »Sobald sie erwachen, behaupten wir, Lancorian hätte einen Heilzauber auf sie gesprochen, der sie vor dem Tode gerettet hat. Sie sollen glauben, daß sie beinahe unsterbliche Kämpfer sind, und das ist ja nicht einmal gelogen.« Wieder blickte er auf die zwölf Männer und Frauen, die auf Strohlagern am Boden des Kellergewölbes lagen. Verwundete, die tödliche Verletzungen empfangen hatten, aber nicht so verstümmelt waren, daß sie Gliedmaßen eingebüßt hätten. Dem einen ragte das abgebrochene Geschoß einer Speerschleuder aus der Hüfte. Zerwas hatte den Schaft untersucht. Es war Ulmenholz. Der Speer mußte nicht aus der Wunde entfernt werden. Daneben lag eine Frau, der herabstürzende Trümmer die Rippen zerschmettert hatten. Ein anderer war halb verbrannt, sein Kopf nur noch ein schrecklicher Klumpen roten Fleischs. Sie alle wären noch vor Morgengrauen in Borons Hallen gegangen, doch jetzt würden sie leben. Sie würden Gelegenheit bekommen, sich an den Schwarzpelzen zu rächen.
Neben der Tür stapelten sich Waffen und Rüstungen, das Beste, was in den Arsenalen der Burg noch aufzutreiben war. Sauber gefaltete, schwarze Umhänge lagen auf einem Stuhl. Jeder aus Zerwas' Elitetruppe sollte einen tragen, damit man sie von den anderen Kriegern unterscheiden konnte.
»Schau, der Verbrannte sieht schon viel besser aus«, sprach ihn Sartassa an. Am Hals des Mannes schimmerte frische rosige Haut. Die gräßliche Wunde begann sich langsam zu schließen. Der Mann stöhnte im Schlaf. »Was glaubst du, wie lange es noch dauern wird?« fragte die Elfe. Zerwas zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich hoffe, nicht zu lange. Das letzte, was ich aus der Stadt gehört habe, war beunruhigend. Die Orks sind schon bis zur alten Stadtmauer vorgedrungen, und es sieht so aus, als würde auch das Andergaster Tor bald fallen.«
»Vielleicht sollte ich schon einmal vorgehen.« Sartassa machte einige Schritte in Richtung Tür.
»Bleib hier!« herrschte Zerwas sie an. »Wir werden alle zusammen losschlagen.« Wütend bleckte die Elfe ihre Fangzähne, doch sie blieb.
Das war also das Ende, dachte Lancorian. Die Orks hatten das Andergaster Tor gestürmt und waren, fast ohne auf Widerstand zu stoßen, bis zum Platz der Sonne vorgedrungen. Mit einer Handvoll Männer stand er gemeinsam mit Marcian in der Gasse vor der ›Fuchshöhle‹ und verteidigte eine Barrikade. Für einen Augenblick war Ruhe. Eben erst hatte er die Illusion eines Dämons erschaffen, der wutschnaubend aus einem der brennenden Häuser hervorbrach. Die Schwarzpelze waren darauf laut schreiend davongelaufen. Doch dies bedeutete nur einen kurzen Aufschub.
Aus allen Richtungen waren Kampflärm und das Schreien Sterbender zu hören. Greifenfurt war am Ende und er auch. Der Zauberer hatte mehr als vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Seit dem gescheiterten Ausfall im Morgengrauen stand er fast ununterbrochen im Kampf. Er hatte kaum noch die Kraft, auf den Beinen zu bleiben. Neben ihm lag Marcian an die Barrikade gelehnt.
»Deine Ruhe möchte ich haben.« Lancorian schaute seinen Freund verständnislos an. Dessen Rüstung war von den Hieben der Orks gezeichnet, und sein roter Umhang hing ihm zerfetzt von den Schultern. »Rund um dich herrscht ein unbeschreibliches Inferno, und du sitzt da und grinst.«
Читать дальше