»Laßt uns jetzt in den Garten gehen! Sobald er nach Osten fliegt, können wir ihn vom Fenster aus nicht mehr beobachten«, erklärte Eolan. Gestützt auf einen seiner Schüler, war er bereits auf dem Weg zur Galerie. Marcian folgte ihm.
Als die Gruppe den Garten erreichte, kreiste der Falke bereits über dem Hauptlager der Orks. Aus der großen Höhe mußte er ohne weiteres erkennen können, was sich hinter den Hügeln verbarg. Da entfuhr einem der Adepten ein Fluch. Mit ausgestrecktem Arm wies er in den Himmel. Links von Kalakaman, noch einige hundert Schritt entfernt, war ein schwarzer Punkt zu erkennen. Ein mächtiger Vogel stieß auf den verwandelten Magier zu. Dieser erkannte die Gefahr und versuchte, nach Westen zur Stadt hin zu entkommen. Eolan hatte dem jungen Zauberer eingeschärft, sich auf keinen Fall irgendeinem Risiko auszusetzen. Der schwarze Vogel holte schnell auf. Währenddessen gelang es dem Falken, in weiten Kreisen an Höhe zu gewinnen.
Der schwarze Vogel erschien riesig. Noch war er zu weit entfernt, als daß man seine Größe hätte schätzen können, doch war er deutlich größer als der Falke. Ganz so, als ahnte er, daß der andere ihn nicht angreifen würde, hatte er den kräfteraubenden Steigflug abgebrochen und befand sich nun unterhalb Kalakamans.
»Das muß ein anderer Magier sein.« Eolans Stimme klang heiser. »Er verhält sich sehr klug. Er will auf jeden Fall verhindern, daß Kalakaman hier in der Stadt landet. Sobald er tiefer geht, wird er ihn angreifen.« »Und warum wehrt dein Schüler sich nicht?« Marcian hatte von Anfang an nicht verstanden, warum der alte Magier seinem Adepten verboten hatte, sich auf einen Luftkampf einzulassen.
»Er wäre dumm, sich zum Kampf zu stellen. Kalakaman hat zwar jetzt den Körper eines Falken, und er kann auch fliegen, doch ist es töricht zu glauben, er wäre ebenso geschickt wie ein Blaufalke. Er hat erst wenige Male diese Gestalt angenommen. Ihm fehlt die Erfahrung im Luftkampf. Ist sein Gegner mit der Vogelgestalt, die er gewählt hat, vertrauter, wird es ihm leichtfallen, meinen Schüler zu besiegen.« Eolan hatte vor Wut die Fäuste geballt und starrte in den Himmel. Mittlerweile waren die beiden Vögel über der Stadt. Nun konnte man den Schwarzen besser erkennen. Seine Spannweite mußte mehr als drei Schritt betragen. Kopf, Flügelspitzen und Brust des Vogels waren schneeweiß, der Rest des Körpers von tiefem Schwarz. Wer immer sich hinter dieser Gestalt verbarg, er hatte klug gewählt. Der schwarze Vogel war ein Königsadler, der seltenste unter den Adlern Aventuriens. Legenden rankten sich um diesen mächtigen Vogel, und es gab Königreiche, in denen es unter Todesstrafe verboten war, Jagd auf ihn zu machen. Sein Erscheinen würde den meisten Bürgern als ein Omen gelten.
Noch immer versuchte Kalakaman, weiter an Höhe zu gewinnen. »Das ist keine Lösung, Junge«, murmelte Eolan vor sich hin.
»Warum?« Marcian verstand den Einwand des alten Mannes nicht. »Weil er nicht ewig am Himmel bleiben kann. Kalakaman hatte mit einem kurzen Erkundungsflug gerechnet. Eigentlich sollte er jetzt schon wieder im Garten sitzen.«
»Wo ist das Problem?« Marcian wandte den Blick nicht vom Himmel. Der Königsadler hatte begonnen, langsam höher zu steigen. Entweder würde er den Adepten so bald erreichen, oder der junge Magier mußte immer weiter in den Himmel fliehen. Doch statt aufzusteigen, schwankte der Falke unsicher in der Luft. Es sah ganz so aus, als hätte er mit schweren Winden zu kämpfen.
Auch Eolan verfolgte den verzweifelten Wettkampf und ließ sich Zeit mit der Antwort. Immer wieder murmelte er: »Komm zurück, du mußt es wagen!«
»Warum fliegt er nicht einfach davon?« Marcian hatte den Eindruck, als würde der Falke immer mehr zum Spielball der Winde. Er kam kaum noch von der Stelle, und der Königsadler würde ihn bald eingeholt haben. »Warum fliegt er nicht einfach in einen Wald und versteckt sich dort?«
»Weil er das nicht kann!« Eolans Stimme war verzweifelt. »Er wird vom Himmel stürzen. Er muß sich jetzt entscheiden. Du scheinst das Wesen der Magie zu vergessen. Heute kann fast kein Zauber mehr gewirkt werden, der von ewiger Dauer ist. Kalakaman hat nur einen Teil seiner Kräfte aufgewandt, um sich in den Falken zu verwandeln. Während er den Zauber sprach, mußte er sich entscheiden, wie lange die Verwandlung andauern sollte. Wir hatten abgesprochen, daß er nur wenig Kraft aufwenden sollte, weil er nur einen kurzen Flug vor sich hatte. Mit diesem Duell war nicht zu rechnen, und deshalb wird er sich bald zurückverwandeln. Geschieht das in der Luft, ist es sein sicherer Tod, sollte er aber ...« Eolan brach mitten im Satz ab.
Der Falke hatte sich entschieden. Er legte die Flügel an und schoß in halsbrecherischem Sturzflug auf den Boden zu. Nur um Augenblicke verzögert folgte ihm der Adler, an dem er pfeilschnell vorbeigestoßen war. Bald erwies sich der Königsadler als schneller. Schon drohte er den Falken einzuholen, als der Vogel geschickt zur Seite wegdrehte und in einem langgezogenen Bogen wieder an Höhe gewann.
Mit breit gespreiztem Gefieder bremste der Adler seinen Flug und versuchte, ebenfalls wieder an Höhe zu gewinnen. Doch jetzt stieß der Falke auf ihn herab.
Für jedes Ausweichen war es zu spät, und die beiden Vögel wurden zu einem stürzenden Knäuel aus Federn, als der Falke dem Königsadler seine Fänge in den Rücken trieb. Bis in den Garten konnte man die schrillen Schreie der kämpfenden Raubvögel hören. Der Falke hatte nur den Vorteil des überraschenden Angriffs gehabt. Jetzt löste sich der Adler. Kalakaman geriet in seiner Vogelgestalt ins Trudeln. Einer seiner Flügel schien verletzt zu sein.
Mit kräftigen Schlägen flog der Adler einen kleinen Bogen und stieß dem stürzenden Falken hinterher. Gnadenlos stieß sein Schnabel vor. Federn stoben in die Luft. Gellend war der Schrei des Falken zu hören. Wieder löste sich der Adler, während der Falke offensichtlich am Ende seiner Kräfte auf den Boden zustürzte. Triumphierend schrie der mächtige schwarze Vogel seinen Sieg hinaus, während der Blaufalke in wenigen Augenblicken tot sein würde.
»Nein!« schrie Eolan. »Nein!«
Und dann geschah das Wunder. Knapp über den Dächern der Stadt breitete der Falke wieder die Flügel aus, bremste den Fall und segelte auf den Garten des Magierhauses zu. Der Königsadler stieß hinterher, doch es war zu spät. Schon verschwand der Falke zwischen den Bäumen. Während seine Adepten weiter den Adler im Auge behielten, stürmte Eolan auf den Falken zu, der wie tot unter einem Baum lag. Blut sickerte durch sein blaues Gefieder, und er atmete nur noch schwach. Dann durchlief ein Zittern den Körper des Vogels, seine Krallen begannen sich zu verformen, und der kleine Körper begann unkoordiniert zu zucken. Die Krallen verschwanden in den langen dünnen Zehen, die langsam dicker wurden und sich zu einem zarten Rosa verfärbten. Gleichzeitig bildeten sich am ganzen Körper des Vogels die Federn zurück, verschwanden in blasser Haut, während alle Gliedmaßen auf abscheuliche Art anzuschwellen begannen.
Marcian wandte den Blick ab. Allein das letzte, was er gesehen hatte, würde ihn noch lange in Alpträumen verfolgen. Ein schwellender Kopf, halb Mensch halb Vogel, der ständig widerliche Ausbuchtungen trieb und kurz vor dem Zerplatzen schien. Erst als er ein eindeutig menschliches Stöhnen hörte, riskierte es Marcian, sich wieder umzudrehen. Eolan kniete neben dem blonden Zauberer und versuchte, ihn aufzurichten. Tiefe blutende Schrammen zogen sich über Kalakamans Rücken. Auch an Brust und Schulter war er verletzt.
»Was hast du gesehen?« Marcian mußte es wissen. Vielleicht würde der Magier seinen Verletzungen erliegen. Würde er jetzt nicht sprechen, mochte alles umsonst gewesen sein.
»Laß meinen Schüler in Ruhe!« herrschte ihn Eolan an.
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