„Was ich dir von Oliver erzählt habe, ist wirklich.“
„Du weißt, was ich meine.“
„Da kann ich nicht mit dienen.“
„Eli, du tust es doch nicht für mich. Du tust es für dich, es ist dein Läuterungsritus. Ich hab’s hinter mir, Oliver auch und sogar Timothy. Und jetzt stehst du hier, schiebst deine eigenen Sünden zurück und gibst vor, noch niemals etwas begangen zu haben, für das man sich schuldig fühlen könnte …“ Ich zuckte die Achseln. „Also gut. Es ist deine Unsterblichkeit, die du da mit Füßen trittst, nicht meine. Also geh. Geh. Geh.“
Er warf mir einen furchtbaren Blick zu, einen Blick, der sich aus Angst, Groll und Schmerz zusammensetzte, und stürmte aus dem Zimmer. Als er fort war, bemerkte ich, daß meine Nerven auf das Äußerste angespannt waren: Meine Hände zitterten, und auf dem Oberschenkel zuckte unkontrolliert ein Muskel. Was hatte mich nur in diese Lage versetzt? Elis feige Selbstverschleierung oder seine Eröffnung von Olivers Verführbarkeit? Ich entschied mich für beides. Beides. Aber eher noch das zweite. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich jetzt zu Oliver ginge und ihm direkt in die eiskalten blauen Augen sähe. Ich weiß alles über dich, würde ich mit ruhiger Stimme sagen, mit friedlicher Stimme. Ich weiß davon, wie du mit vierzehn von deinem Freund verführt worden bist. Aber du darfst mir jetzt nicht erzählen, daß es wirklich eine Verführung war, Ol, denn ich glaube nicht an Verführungen, und ich kenne mich auf diesem Gebiet etwas aus. Verführt zu werden läßt dich nicht mitmachen, wenn du nicht schwul bist. Du machst mit, weil du das willst, ist es nicht so? Und seit deiner Geburt steckt es in dir, ist in deinen Genen programmiert, in deinen Knochen, deinen Eiern. Es wartet nur auf die passende Gelegenheit, um ans Tageslicht zu treten. Und sobald dir jemand die Gelegenheit dazu gibt, wirst du dich dazu bekennen. Nun aufgepaßt, Ol, du hattest deine Chance, und es hat dir gefallen. Danach hast du sieben Jahre damit verbracht, dagegen anzukämpfen. Und jetzt wirst du es mit mir tun. Nicht weil meine Schliche unbezwingbar sind. Nicht weil ich dich mit Drogen oder Alkohol gefügig gemacht habe. Es wird keine Verführung geben. Nein, du wirst es tun, weil du es willst, Ol, weil du es immer gewollt hast. Du hast nur nie den Mut gehabt, es zu tun. Und ich würde auf ihn zugehen und ihn berühren. Und er würde den Kopf schütteln, und tief aus seinem Hals würde ein rasselndes, hustendes Geräusch kommen, weil er immer noch kämpfte. Und dann würde etwas in ihm brechen, etwas, das sieben Jahre lang angehalten hatte, und er würde den Kampf beenden. Er würde sich ergeben, und wir könnten endlich miteinander schlafen. Und danach lägen wir erschöpft und verschwitzt eng umschlungen zusammen. Aber seine Begierde würde rasch abkühlen, wie das immer so ist. Und Schuld und Scham stiegen in ihm auf, und — ich konnte es ganz deutlich vor meinem geistigen Auge sehen — er würde mich zu Tode prügeln, mich niederschlagen, mich auf den Steinboden werfen und sich mit meinem Blut besudeln. Er würde über mir stehen, während ich mich vor Schmerzen krümmte, und er würde mich vor Wut anschreien, weil ich ihn sich selbst gezeigt hatte, von Angesicht zu Angesicht. Und er würde das Wissen um das, was er in meinen Augen gesehen hätte, nicht ertragen können. Schon in Ordnung, Ol, wenn du mich schon vernichten mußt, dann tu’s. Das geht schon klar, weil ich dich liebe, und deswegen ist alles, was du mit mir anstellst, richtig. Und es erfüllt auch das Neunte Mysterium, nicht wahr? Ich bin hierhergekommen, um dich einmal zu besitzen und dann zu sterben. Und jetzt habe ich dich besessen, und jetzt, im richtigen mystischen Moment, werde ich sterben. Und das ist gut so, geliebter Ol, alles hat seine Richtigkeit. Und seine gewaltigen Fäuste zerschmettern meine Knochen. Und mein geborstenes Skelett verdreht sich und zuckt. Von oben läßt sich dann die ekstatische Stimme von Bruder Antony vernehmen, der das Neunte Mysterium intoniert. Und eine unsichtbare Glocke schlägt: Dong, dong, dong — Ned ist tot, Ned ist tot, Ned ist tot.
Diese Einbildung wurde auf so erschreckende Weise real, daß ich am ganzen Körper zitterte und zuckte; ich konnte die Gewalt dieser Vision in jeder Körperzelle spüren. Mir kam es so vor, als sei ich bereits bei Oliver gewesen, hätte mit ihm leidenschaftlich zusammengesteckt, wäre schon unter seinem flammenden Zorn zerbrochen. Deshalb gab es für mich jetzt auch keinen Grund mehr, diese Dinge noch einmal zu tun. Sie waren vorbei, ausgeführt und in einer versiegelten Vergangenheit eingeschlossen. Ich kostete nur noch meine Erinnerungen an ihnen aus. Die Berührung seiner glatten Haut mit meiner. Seine granitharten Muskeln, die unter der prüfenden Berührung meiner Finger nicht nachgaben. Sein Geschmack auf meinen Lippen. Der Geschmack meines eigenen Blutes, das in meinen Mund sickerte, als er auf mich einschlug. Das Gefühl, den eigenen Körper aufgegeben zu haben. Die Ekstase. Die Glocke. Die Stimme von oben. Die Brüder, die für mich ein Requiem sangen. Ich verlor mich in visionärer Ehrfurcht.
Dann bemerkte ich plötzlich, daß jemand in mein Zimmer getreten war. Die Tür öffnete sich und wurde geschlossen. Schritte. Ich hielt das auch für einen Teil meiner Vorstellung. Ohne mich umzusehen entschied ich, daß Oliver zu mir gekommen sein mußte. Und in meinem traumatischen, triebhaften Zustand konnte ich mich selbst davon überzeugen, daß es Oliver war, es mußte ganz einfach Oliver sein. Und so war ich einen Moment lang recht verwirrt, als ich mich schließlich umdrehte und Eli sah. Er saß still an der gegenüberliegenden Wand. Schon bei seinem ersten Besuch war er ziemlich depressiv erschienen, aber jetzt — zehn Minuten später? eine halbe Stunde später? — machte er den Eindruck völliger Auflösung. Niedergeschlagene Augen, herabhängende Schultern. „Ich verstehe einfach nicht“, sagte er dumpf, „wie diese Beichte irgendeinen Wert haben sollte, ob real, symbolisch, metaphorisch oder sonstwie. Ich glaubte, ich hätte es begriffen, als Bruder Javier das erste Mal zu uns darüber sprach. Aber jetzt bekomme ich einfach keinen Sinn hinein. Warum? Warum?“
„Weil sie es verlangen“, sagte ich.
„Was hat das damit zu tun?“
„Es ist eine Frage des Gehorsams. Aus dem Gehorsam erwächst die Disziplin, aus der Disziplin die Kontrolle und aus der Kontrolle die Kraft, die Mächte des Verfalls zu besiegen. Gehorsam ist Anti-Ungewißheit, Ungewißheit unser Feind.“
„Wie zungenfertig du bist“, sagte er.
„Zungenfertigkeit ist keine Sünde.“
Er lachte und gab keine Antwort. Ich bemerkte, daß er an einer Grenze stand, daß er sich auf dem rasiermesserscharfen Grat zwischen Gesundheit und Wahnsinn bewegte. Und ich, der ich mein ganzes Leben lang auf diesem Grat entlanggeschritten war, wollte nicht derjenige sein, der ihn in den Abgrund stieß. Die Zeit verging. Meine Vision wich von mir, und Oliver verblaßte und wurde unwirklich. Ich hegte deswegen keinen Groll gegen Eli; dies war seine Nacht. Endlich erzählte er mir von einem Essay, den er mit sechzehn Jahren geschrieben hatte, in seinem letzten Jahr auf der High School. Einen Essay über den moralischen Zusammenbruch des Weströmischen Reiches anhand der Degeneration des Lateins in die verschiedenen romanischen Sprachen. Er konnte sich selbst jetzt noch an eine ganze Menge von dem erinnern, was er damals geschrieben hatte. Er trug längere Passagen daraus vor, und ich hörte nur halb hin, gewährte ihm das höfliche Vorgeben von Höflichkeit, aber nicht mehr. Denn obwohl sich der Essay in meinen Ohren brillant anhörte — eine bemerkenswerte Arbeit für einen Wissenschaftler jeden Alters und ganz bestimmt erstaunlich für einen sechzehnjährigen Jungen —, hatte ich in diesem Moment auch nicht die leiseste Lust, etwas über die ethischen Implikationen zu hören, die in den Entwicklungsmustern des Französischen, Spanischen und Italienischen zu finden waren. Aber mit der Zeit verstand ich immer mehr Elis Motive, mir diese Geschichte zu erzählen, und ich schenkte ihm mehr Aufmerksamkeit. Ganz offensichtlich beichtete er mir. Denn er hatte den Essay für einen Wettbewerb geschrieben, der von einer angesehenen Bildungsgesellschaft ausgerichtet worden war. Eli hatte gewonnen und dafür ein großzügiges Stipendium erhalten, das ihm den Besuch am College ermöglichte. Eigentlich lag seine ganze akademische Karriere in dieser Arbeit begründet, denn sie war in einer führenden philologischen Zeitschrift abgedruckt worden und hatte ihn zu einer gefeierten Persönlichkeit in diesem Zweig der Wissenschaft gemacht. Die Türen aller Bibliotheken standen ihm offen; er hätte sicher keine Möglichkeit gehabt, jenes gewisse Manuskript zu finden, das uns zum Haus der Schädel geführt hatte, wenn er nicht diesen meisterlichen Essay geschrieben hätte, auf den sich sein Ruhm gründet. Und — so erklärte er mir im gleichen ausdruckslosen Tonfall, in dem er kurz zuvor unregelmäßige Verben erläutert hatte — das grundlegende Konzept seiner Essays war nicht auf seinem Mist gewachsen. Er hatte es gestohlen.
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