Eine unheimliche Stille senkte sich auf uns herab. Ich konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen. Das war mehr als eine Beichte gewesen, das war schon Harakiri. Eli hatte sich vor meinen Augen selbst zerstört. Ja, eigentlich war ich Elis nachgesagter Tiefgründigkeit immer mit etwas Mißtrauen begegnet; denn obwohl er unzweifelhaft über einen ausgezeichneten Verstand verfügte, hinterließen doch alle seine Erkenntnisse auf merkwürdige Weise in meinen Augen den Eindruck, sie stammten nicht von ihm. Trotzdem hätte ich diese Tat niemals von ihm angenommen, diesen Diebstahl, diesen Betrug. Was konnte ich schon sagen? Wie ein Priester glucken und ihm sagen, ja, mein Sohn, du hast schwer gefehlt? Das wußte Eli selbst. Ihm sagen, daß Gott ihm vergeben werde, weil Gott Liebe sei? Daran glaubte ich ja selbst nicht einmal. Vielleicht sollte ich es mit einer Prise Goethe versuchen und ihm sagen: Erlösung von einer Sünde kann immer noch durch gute Taten bewerkstelligt werden, Eli. Geh voran, lege Sümpfe trocken, erbaue Krankenhäuser und schreibe ein paar brillante Aufsätze, die nicht zusammengeklaut sind, und alles wird sich für dich zum Guten wenden. Eli saß da und wartete auf die Absolution, wartete auf das eine Wort, das das Joch von ihm nehmen würde. Er wünschte, er hätte mir eine weniger bedeutende fleischliche Sünde gebeichtet. Oliver hatte mit seinem Spielkameraden gebumst, das war schon alles, eine Tat, die in meinen Augen gar keine Sünde war, sondern nur Freude und Vergnügen. Deshalb war Olivers Qual auch unsinnig, lediglich ein Produkt des Konfliktes zwischen seinen originären körperlichen Bedürfnissen und den Konditionen, die die Gesellschaft aufgestellt hatte. Im Athen des Perikles hätte Oliver überhaupt nichts zu beichten gehabt. Timothys Sünde, was immer sie auch gewesen sein mochte, war sicherlich etwas ähnlich Seichtes gewesen, weniger aus der Grundmoral entsprungen, sondern eher aus irgendwelchen lokalen Tabus. Vielleicht hatte er mit einem Dienstmädchen geschlafen, oder er hatte heimlich seine Eltern beim Bumsen beobachtet. Mein eigenes Vergehen war da schon komplexer, denn ich hatte Freude am Untergang von anderen empfunden. Vielleicht hatte ich ja noch nicht einmal den Untergang anderer in die Wege geleitet, aber selbst das war eine spitzfindige jakobinische Überlegung, die in einer endgültigen Analyse eigentlich substanzlos dastand. Aber hier lag die Sache anders. Wenn Plagiate die Grundlage für Elis wissenschaftliche Reputation waren, dann hatte Eli eigentlich gar keine Grundlagen: Er war hohl, er war leer, und welche Absolution konnte man ihm dafür geben? Eli hatte seinen Teil hinter sich, jetzt war ich dran. Ich stand auf, ging zu ihm hin, nahm seine Hände, hob ihn auf die Füße und sagte ihm die magischen Worte: Reue, Buße, Vergebung, Erlösung. Mit den Gedanken ganz woanders, nickte er mir zu und verließ mich. Ich dachte an das Neunte Mysterium und fragte mich, ob ich ihn je wiedersehen sollte.
Brütend lief ich lange durch mein Zimmer. Dann verführte mich Satan, und ich ging Oliver besuchen.
„Ich kenne die Geschichte“, sagte Ned, „ich kenne sie von A bis Z.“ Schüchtern lächelte er mich an. Sanfte Augen, Kuhaugen sahen in meine. „Du brauchst dich nicht dessen zu schämen, was du bist, Oliver. Du brauchst dir nie mehr deswegen Angst zu machen. Begreifst du nicht, wie wichtig es ist, sich selbst zu erkennen, soweit ins eigene Unterbewußtsein einzudringen, wie das nur möglich ist, und dann so zu handeln, wie man es dort vorgefunden hat? Statt dessen aber errichten so viele Leute dicke Mauern zwischen sich, Mauern, die nur aus nutzlosen Abstraktionen bestehen. Jede Menge Das-sollst-du-nicht-tun- und Das-darfst-du-nicht-Kram. Warum? Was bringt das für einen Nutzen?“ Neds Gesicht glühte. Ein Versucher, ein Teufel. Eli mußte ihm alles erzählt haben. Von Karl und mir, und von mir und Karl. Ich hätte Eli am liebsten den Schädel eingeschlagen. Ned umkreiste mich, grinste und schlich wie eine Katze, wie ein Ringer kurz vor der Attacke. Er sprach leise, fast summend. „Na los, Ol. Entkrampfe dich. LuAnn wird es schon nicht herausbekommen. Ich werde sowieso nichts sagen. Na, komm schon, Ol, worauf warten wir noch, laß es uns tun. Wir sind keine Fremden. Und lang genug haben wir uns voneinander ferngehalten. Das ist doch dein eigentliches Ich, Oliver, das ist dein wirkliches Ich in dir, was da heraus will. Und jetzt ist der richtige Moment für dich, es herauszulassen. Willst du es, Oli? Willst du? Jetzt? Hier ist deine Chance. Und hier bin ich.“ Und er kam mir näher. Sah zu mir hinauf. Kleiner, schmächtiger Ned, geht mir gerade bis an die Brust. Seine Finger trippeln leicht über meinen Unterarm. „Nein“, sagte ich und schüttelte den Kopf. „Faß mich nicht an, Ned.“ Er lächelte immer noch, um mich zu reizen. „Entzieh dich mir nicht“, flüsterte er. „Weise mich nicht ab. Denn wenn du das tust, weist du dich selbst ab, du wirst dich der Akzeptierung der Realität deiner eigenen Existenz verweigern. Und das wirst du doch nicht können, Oliver, oder? Nicht, wenn du ewig leben willst. Ich bin eine Station, an der du auf deinem Weg vorbei mußt. Wir haben es beide schon seit Jahren gewußt, ganz tief unten. Jetzt tritt es an die Oberfläche, Ol. Jetzt tritt alles an die Oberfläche. Jetzt strömt alles zusammen, alles läuft auf diesen Zeitpunkt zu, Ol, auf diesen Ort, dieses Zimmer, diese Nacht. Ja? Ja? Sag ja, Oliver. Sag ja!“
Ich wußte nicht mehr, wer ich war und wo ich war. Ich war in Trance, in einer Wolke, in einem Koma. Wie mein eigener Geist irrte ich durch die Gänge des Schädelhauses, trieb mich durch die kühlen, nachtdunklen Korridore. Die Schädel-Steinbilder starrten von den Wänden, grinsten mich an. Ich grinste zurück. Ich zwinkerte, warf ihnen Kußhändchen zu. Ich blickte auf die Reihe massiver Eichentüren, die in die Unendlichkeit verschwand. Jede Tür fest verschlossen. Seltsame Namen kommen mir in den Sinn: Das ist Timothys Zimmer, das Neds, das Olivers. Wer sind sie? Und das ist das Zimmer von Eli Steinfeld. Wer? Eli Steinfeld. Wer? E. Li. Stein. Feld. Eine Ansammlung unverständlicher Geräusche. Eine Anhäufung bedeutungsloser Silben. E. Li. Stein. Feld. Wir wollen weitermachen. Dieses Zimmer gehört Bruder Antony, und hier trifft man vielleicht auf Bruder Bernard, hier Bruder Javier, hier Bruder Claude, Bruder Miklos, Bruder Maurice, Bruder Leon und Bruder Hinz und Bruder Kunz. Wer sind diese Brüder, was bedeuten ihre Namen? Hier befinden sich noch mehr Türen. Da müssen die Frauen schlafen. Aufs Geratewohl öffnete ich eine Tür. Vier Betten, vier gutgewachsene Frauen, nackt, ausgebreitet in einem Haufen zerknüllter Laken. Nichts verbirgt sich dem Blick: Hüften, Po, Brüste, Lenden. Die Gesichter von Schlafenden mit offenen Mündern. Ich könnte hineingehen, zwischen ihre Beine eindringen, sie besitzen, alle vier, eine nach der anderen. Aber nein. Weiter, zu einem Ort, wo es kein Dach gibt, wo die glitzernden Sterne durch die Balken scheinen. Hier war es kälter. Totenschädel an der Wand. Ein sprudelnder Springbrunnen. Ich schritt durch die Versammlungsräume. Hier werden wir in den Achtzehn Mysterien unterrichtet. Hier machen wir unsere heiligen Gymnastikübungen. Und dort essen wir unsere Diät. Und da — diese Öffnung im Fußboden, dieser Schildbuckel, der Nabel des Universums, das Tor zur Hölle. Ich muß dort hinunter; hinunter also. Der Geruch nach Moos. Keine Beleuchtung. Der Abstieg flacht ab; dies ist kein Schlund, sondern nur ein Tunnel, und ich erinnere mich daran. In dieser Richtung bin ich noch nie hier durchgekommen, sondern aus der anderen Richtung. Ein Hindernis, ein Steinbrocken. Er bewegt sich! Er bewegt sich! Der Tunnel läuft weiter. Vorwärts, vorwärts, vorwärts. Posaunen und Baßhörner, ein Baß-Chor, die Worte des Requiems zucken nach oben: Rex tremendae majestatis, qui salvandos salvas gratis, salva me, fons pietatis. Draußen! Ich kam auf der freien Fläche heraus, von der aus ich beim erstenmal ins Haus der Schädel gestiegen war. Vor mir das triste Ödland, die stachelige Wüste. Hinter mir das Haus der Schädel. Über mir die Sterne, der Vollmond, das Gewölbe des Himmels. Was nun? Unschlüssig lief ich über die freie Fläche, kam an der Reihe basketballgroßer Steinschädel vorbei, die dies alles begrenzten, und runter auf den schmalen Pfad, der durch die Wüste lief. Ein richtiges Ziel hatte ich nicht. Meine Füße trugen mich einfach davon. Stundenlang oder tagelang oder wochenlang lief ich einfach. Dann sah ich zu meiner Rechten einen großen, schweren Fels: verwitterte Oberfläche, dunkle Farbe, der Meilenstein, der gigantische Stein-Totenschädel. Im Mondlicht waren die tiefeingeschnittenen Züge deutlich zu erkennen, und scharfrandige schwarze Löcher voller Nacht. Brüder, hier wollen wir meditieren. Laßt uns den Schädel unter unserem Gesicht betrachten. Und so kniete ich nieder. Und mittels der Techniken, die der fromme Bruder Antony mir beigebracht hatte, sandte ich meine Seele aus, strömte auf den großen Steinschädel ein und reinigte mich von aller Verwundbarkeit des Todes. Schädel, ich kenne dich! Schädel, ich fürchte dich nicht! Schädel, ich trage deinen Bruder unter meiner Haut! Und ich lachte den Schädel aus und amüsierte mich dabei, seine Form zu ändern: zuerst in ein weiches, weißes Ei, dann in einen Globus aus rosafarbenem Alabaster, von gelben Venen und Adern durchzogen, dann in eine Kristallkugel, deren Tiefe ich erkundete. Die Kugel zeigte mir die goldenen Türme des verlorenen Atlantis; die zottigen Männer in wolligen Fellen, die im Schein der Fackel in einer verrauchten Höhle vor den aufgemalten Ochsen an der Wand tanzten. Die Kugel zeigte mir Oliver, der müde und erschöpft in Neds Armen lag. Ich verwandelte die Kugel in einen rauhen, grob bearbeiteten Schädel aus schwarzem Stein zurück und ging befriedigt den dornigen Pfad zum Haus der Schädel zurück. Ich stieg nicht in den unterirdischen Gang hinunter, sondern lief statt dessen am Gebäude entlang, am langgezogenen Flügel, in dem wir von den Brüdern unterrichtet werden; bis ich an das Ende des Gebäudes gelangte, wo der Weg begann, der zu den kultivierten Feldern führte. Im Mondlicht suchte ich nach Unkraut und fand keins. Ich liebkoste die kleinen Pfefferpflanzen; ich segnete die Beeren und Wurzeln. Das ist die heilige Nahrung, die reine Nahrung, die Nahrung für die Ewigkeit. Ich kniete mich zwischen den Reihen nieder, auf den kalten, nassen Boden, und betete darum, daß mir meine Sünden vergeben würden. Als nächstes ging ich zu dem kleinen Hügel westlich vom Schädelhaus. Ich bestieg ihn, zog meine Shorts aus, zeigte mich nackt der Nacht und vollführte die heiligen Atemübungen; ich kauerte mich hin, saugte die Dunkelheit ein und vermischte sie mit dem inneren Atem, erhielt Kraft daraus und verteilte diese Kraft auf meine Organe. Mein Körper löste sich auf. Ich war ohne Masse und Gewicht. Ich floß tanzend in einer Luftsäule. Jahrhundertelang hielt ich die Luft an. Äonenlang stieg ich auf. Ich näherte mich dem wahren Zustand der Gnade. Jetzt war die richtige Zeit für die Gymnastikübungen, und ich begann damit. Ich bewegte mich mit einer Grazie und Beweglichkeit, die ich nie zuvor besessen hatte. Ich beugte mich, drehte mich, verrenkte mich, schoß wieder nach oben. Ich warf mich selbst in die Luft, klatschte in die Hände, probierte jeden einzelnen Muskel aus. Ich versuchte, meine eigenen Grenzen zu erreichen.
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