„Wir haben den Ort erreicht“, sagte Bruder Antony.
Das sollte ein Friedhof sein? Ich sah weder Grabsteine noch sonstige Anzeichen. Die niedrigen grauen Pflanzen mit den lederartigen Blättern vom durstigen Ödland begrenzten hier ein leeres Feld. Mein Blick hatte sich wieder etwas geklärt, und ich sah alles mit der seltsamen ausgeflippten Intensität der Erschöpfung. Ich bemerkte wieder Unregelmäßigkeiten im Gelände: eine Stelle hier, die ein paar Zentimeter eingesunken schien, eine Stelle dort, die sich von der Umgebung erhoben zu haben schien; sollte hier tatsächlich die Oberfläche hin und wieder aufgewühlt worden sein? Vorsichtig ließen wir Timothy hinunter. Als er unten war, schien mir mein Körper vor Entlastung zu entgleiten; ich fürchtete wirklich, ich würde vom Boden abheben. Meine Glieder zitterten, und meine Arme hoben sich selbständig bis zu den Schultern hoch. Doch die Rast währte nur kurz. Bruder Franz reichte uns die Werkzeuge, und wir begannen, das Grab auszuheben. Nur er half uns; die anderen drei Hüter hielten sich zurück und standen dort wie Votivstatuen, bewegungslos und neutral. Die Erde war grob und weich; vielleicht hatten zehn Millionen Jahre Sonne über Arizona ihren Zusammenhalt herausgebacken. Wir schufteten wie Sklaven, wie Ameisen, wie Maschinen; stoßen und heben, stoßen und heben, stoßen und heben; jeder von uns errichtete seinen eigenen kleinen Erdhügel, bis die drei zu einem einzigen zusammenwuchsen. Zuweilen drangen wir auch in die Arbeitsstelle eines anderen ein, einmal hätte Eli mir beinahe den Fuß mit seiner Picke durchbohrt. Aber wir brachten die Arbeit zu ihrem Ende. Schließlich lag da ein unebenes Grab, vielleicht zwei Meter lang, einen Meter breit und knapp anderthalb Meter tief, vor uns. „Das reicht“, sagte Bruder Franz. Keuchend, schwitzend und total erledigt ließen wir unsere Werkzeuge fallen und traten zurück. Ich befand mich am Rande des Zusammenbruchs und konnte kaum noch auf den eigenen Beinen stehen. Ein trockenes Würgen bedrängte mich; ich kämpfte dagegen an und konnte es absurderweise in einen Schluckauf verwandeln. Bruder Antony sagte: „Legt den toten Mann in das Loch.“ Einfach so? Kein Sarg, überhaupt keine Bedeckung? Dreck auf das nackte Gesicht? Staub zu Staub? Schien so zu sein. Wir entdeckten in uns ein unverbrauchtes Energiereservoir und hoben Timothy hoch, schwangen ihn in unser Grabloch und ließen ihn langsam hinunter. Er lag auf dem Rücken, der zerschmetterte Kopf ruhte auf weicher Erde; die Augen — zeigten sie Überraschung? — starrten zu uns hoch. Eli griff hinunter, schloß ihm die Augen und drehte Timothys Kopf etwas zur Seite, in eine Position, die beim Schlaf auftritt, eine bequemere Art, die ewige Ruhe zu verbringen. Die vier Hüter stellten sich nun an den vier Ecken des Grabes auf. Die Brüder Miklos, Franz und Javier legten die Hände auf ihre Anhänger und senkten den Kopf. Bruder Antony starrte stur geradeaus und rezitierte eine kurze Andacht in der flüssigen, unentzifferbaren Sprache, die die Brüder benutzen, wenn sie mit den Priesterinnen sprechen. (Aztekisch? Die Sprache von Atlantis? Die Muttersprache der Cro-Magnon-Menschen?) Bei den letzten Sätzen wechselte er auf Latein über und sprach etwas, von dem Eli mir später erzählte, es sei der Text des Neunten Mysteriums gewesen, was genau meiner Vermutung entsprach. Dann gab der Bruder mir und Eli ein Handzeichen, das Grab zu füllen. Wir packten unsere Schaufeln und kippten Erde hinunter. Mach’s gut, Timothy! Du goldener Sproß der WASP-Kaste, Erbe von acht Generationen sorgfältigster Zucht! Wer wird deine Kapitalanlagen erhalten, wer den Namen deiner Familie weitertragen? Staub zu Staub. Eine dünne Lage Arizonaerde bedeckt jetzt die massige Gestalt. Wie Roboter schuften wir, Timothy, und du entschwindest aus unseren Augen. Es war alles von Anfang an festgelegt. Wie es im Buch der Schädel vor zehnlausend Jahren niedergeschrieben wurde.
„Alle regulären Veranstaltungen fallen für heute aus“, sagte Bruder Antony, als das Grab gefüllt und die Erde darüber festgetrampelt worden war. „Wir werden den Tag mit Meditation verbringen, keine Mahlzeiten zu uns nehmen und uns ganz der Betrachtung der Mysterien widmen.“ Aber noch mehr Arbeit erwartet uns, bevor wir mit unseren Betrachtungen beginnen konnten. Wir kehrten ins Schädelhaus zurück und beabsichtigten, zunächst zu baden. Und wir entdeckten Bruder Leon und Bruder Bernard auf dem Gang vor Olivers Zimmer. Ihre Gesichter waren zu Masken erstarrt. Sie deuteten ins Zimmer hinein. Oliver lag mit dem Gesicht nach oben auf seinem Bett ausgebreitet. Er muß sich aus der Küche ein Messer ausgeliehen haben, und wie ein Chirurg, der er nun nie mehr werden konnte, hatte er an sich selbst präzise Arbeit geleistet, an Hals und Unterleib, und auch das verräterische Glied zwischen den Schenkeln hatte er nicht ausgespart. Die Einschnitte waren tief und von fester Hand gemacht: diszipliniert bis zum Ende, hatte der unbeugsame Oliver sich mit seiner charakteristischen Vorliebe für methodisches Vorgehen selbst geschlachtet. Ich hätte das so wenig zustandebringen können, wie auf einem Mondstrahl spazierenzugehen. Aber Oliver hatte immer erstaunliche Fähigkeiten der Konzentration gehabt. Wir betrachteten das Ergebnis seiner Arbeit seltsam leidenschaftslos. Es gibt eine ganze Menge Dinge, vor denen ich mich ekle, und Eli auch, aber an diesem Tag, da das Neunte Mysterium sich erfüllte, wurde ich von all diesen Schwächen befreit. „Es ist einer unter euch“, sagte Bruder Antony, „der zugunsten seiner Brüder in der Viererfigur auf die Unsterblichkeit verzichten will, so daß sie die Erkenntnis der Bedeutung der Selbstaufgabe erringen können.“ Jawohl. Und so stapften wir ein zweites Mal zu dem Friedhof. Und später schrubbte ich, aus Buße für meine Sünden, die dicken, geronnenen Flecken in jenem Zimmer ab, in dem Oliver gewohnt hatte. Danach badete ich, saß allein in meinem Zimmer und studierte die Mysterien des Schädelkults.
Der Sommer liegt schwer auf dem Land. Die Hitze des pulsierenden Himmels betäubt. Alles scheint vorbestimmt und in der richtigen Ordnung zu sein. Timothy schläft. Oliver schläft. Ned und ich sind übriggeblieben. Diese Monate haben unseren Körpern gutgetan, und unsere Haut ist von der Sonne dunkel geworden. Wir leben in einer Art Wachtraum und gleiten friedlich durch unsere tägliche Routine von Arbeit und Riten. Wir sind noch keine fertigen Brüder, aber die Zeit unserer Prüfung nähert sich dem Ende. Zwei Wochen nach der Beerdigung schaffte ich auch das Ritual mit den drei Frauen, und seit dieser Zeit habe ich keine Schwierigkeiten mehr mit allen Aufgaben, die die Brüder mir vorsetzen.
Die Tage fließen zusammen. Wir sind schon sehr, sehr lange hier. War es im April gewesen, als wir zum erstenmal zu den Brüdern kamen? Der April von welchem Jahr? Und welches Jahr schreiben wir jetzt? Ein Wachtraum, ein wirklicher Wachtraum. Manchmal denke ich, daß Timothy und Oliver nur Figuren aus einem Traum sind, einem Traum, den ich vor langer Zeit geträumt habe. Ich beginne die Einzelheiten in ihren Gesichtern zu vergessen. Blonde Haare, blaue Augen, ha, aber was noch? Welche Form hatten ihre Nasen, wie ragte ihr Kinn hervor? Ihre Gesichter verblassen. Timothy und Oliver sind gegangen, und Ned und ich sind geblieben. Ich kann mich immer noch an Timothys Stimme erinnern: ein warmer, geschmeidiger Baß, gut im Griff gehalten, wunderbar moduliert, mit einer Spur nasal-aristokratischer Beugung. Und Olivers Stimme: ein starker, klarer Tenor, kein Akzent erkennbar, der akzentlose Amerikaner aus den Prärien. Mein Dank ist ihnen sicher. Sie sind für mich gestorben.
Heute morgen schwankte mein Glaube, nur für einen Moment, aber es war ein erschreckender Augenblick. Ein Abgrund, der sich unerwartet unter mir öffnete, nach so vielen Monaten aufrichtiger Sicherheit. Und ich sah Teufel mit ihrem Dreizack und hörte das schrille Gelächter Satans. Ich kam gerade von den Feldern und sah über das flache, aufgerauhte Land zu dem Ort, wo Timothy und Oliver liegen, und unerwartet fragte mich in meinem Kopf eine dünne, kratzige Stimme: Glaubst du wirklich, daß du hier etwas gewonnen hast? Wie kannst du dir dessen sicher sein? Wie sicher bist du dir, daß es möglich ist, das zu erlangen, wonach du strebst? Ich erlebte einen schrecklichen Moment voller Furcht, in dem ich mir vorstellte, ich starre mit rotgeränderten Augen in eine frostige Zukunft, sah mich selbst verwelken und zusammensacken und zu Staub zerfallen in einer leeren, verwüsteten Welt. Der Moment des Zweifels verging so schnell, wie er gekommen war. Vielleicht nur eine umherwandernde Böe zielloser Unzufriedenheit, die müßig über den Kontinent auf den Pazifik zuwehte und nur kurz angehalten hatte, um mich zu verwirren. Ich bebte von dem eben Erlebten und rannte ins Haus zurück, um Ned zu finden und ihm davon zu erzählen. Aber als ich mich seinem Zimmer näherte, erschien mir mit einemmal der ganze Vorfall viel zu lächerlich, um ihn zu schildern. Glaubst du wirklich, daß du hier etwas gewonnen hast? Wie hatte ich nur an allem zweifeln können? Ein beunruhigender Rückfall, Eli.
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