Es war kein schönes Bild.
»Die beiden letzten Jäger, die Lanzen über dem Rücken, ergreifen die Flucht«, fuhr Kog fort. »In einiger Entfernung drehen sie sich um und betrachten den Kailiauk, den schwarzen Gast und den Mann. Das Blut des zweiten Jägers verfärbt die Schnauze des schwarzen Gastes und das zottige Fell seiner Brust. Die beiden überlebenden Jäger ergreifen die Flucht. Nun sind der schwarze Gast und der Mann allein mit dem Kailiauk und den drei reiterlosen Kaiila. Wieder hockt sich der schwarze Gast hinter den Kailiauk. Der Mann steckt Bogen und Pfeile fort. Der schwarze Gast lädt ihn ein, an seiner Mahlzeit teilzunehmen.«
»Eine interessante Erfindung, diese Geschichte«, sagte Samos.
»Dreh das Leder!« forderte ich Kog auf.
»Der schwarze Gast ist gegangen«, fuhr Kog fort. »Der Mann schneidet sich Fleisch vom Kailiauk ab.«
Wieder drehte Kog die Bildfolge weiter.
»Der Mann kehrt in sein Lager zurück. Und zwar mit drei Kaiila, von denen er eine reitet. Die anderen beiden sind schwer beladen mit Fleisch von dem Kailiauk. Nun wird kein Hunger mehr herrschen in seinem Lager. Mitgebracht hat er außerdem das Fell des Kailiauk, vor sich eingerollt, und drei Skalps. Er wird sich einen Schild daraus machen.«
Wieder drehte Kog das Leder.
»Dies ist der Schild, den er sich fertigen wollte«, sagte er und deutete auf das letzte Bild. Dieses letzte Bild war viel größer als die anderen, etwa sechs oder sieben Zoll hoch.
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Der Schild zeigt in deutlicher Zeichnung das Ebenbild des schwarzen Gastes, des Medizinhelfers.«
»Ja«, sagte ich.
»Erkennst du ihn?« fragte Kog.
»Ja«, sagte ich. »Es ist Zarendargar, Halb-Ohr.«
»Dessen kannst du nicht sicher sein«, meinte Samos.
»Wir glauben auch, daß es sich um Zarendargar handelt, der von manchen Menschen Halb-Ohr genannt wird«, sagte Kog.
»Dann lebt er also!« rief ich.
»Sieht so aus«, meinte Kog.
»Warum hast du uns das Bild gezeigt?« fragte ich.
»Wir erstreben eure Hilfe«, sagte Kog.
»Ihn aus dem Ödland zu retten?« fragte ich.
»Nein, ihn zu töten!« antwortete Kog.
»Das ist unerhört!« sagte Samos. »Diese ganze Geschichte ist doch die reinste Phantasterei!«
»Du wirst bemerken, daß die Geschichte auf dieser Tierhaut entwickelt wurde.«
»Und?« fragte Samos.
»Es handelt sich um eine Kailiaukhaut«, sagte Kog.
»Na und?« wiederholte Samos.
»Die roten Wilden sind für das Überleben auf den Kailiauk angewiesen«, erklärte Kog. »Dieses Tier liefert den größten Teil der Nahrung und andere Dinge zum Leben. Fleisch und Haut, Knochen und Sehnen, davon leben die Roten. Sie gewinnen aus dem Kailiauk nicht nur Nahrung, sondern auch Kleidung und Unterkunft, Werkzeuge und Waffen.«
»Das weiß ich doch!« rief Samos.
»In allen Geschichten und Überlieferungen verehren die Wilden den Kailiauk. Seine Bilder und Relikte spielen eine große Rolle bei ihrer Medizin.«
»Ich weiß.«
»Außerdem glauben sie, daß der Kailiauk sie verlassen würde, wenn sie seiner nicht wert wären. Und sie glauben, daß dies vor langer Zeit schon einmal passiert ist.«
»Und?« fragte Samos.
»Folglich werden diese Leute auf der Haut des Kailiauk keine Lügen erzählen«, sagte Kog. »Dies wäre der letzte Ort in der ganzen Welt, an dem sie lügen würden. Auf die Haut des Kailiauk darf man nur die Wahrheit malen.«
Samos schwieg.
»Beachte außerdem«, fuhr Kog fort, »daß auf dem Schild das Bild des schwarzen Gastes erscheint!«
»Das sehe ich«, sagte Samos.
»Bei den roten Wilden gibt es den Glauben, daß ihr Schild sie nicht mehr schützen wird, wenn sie seiner unwürdig sind oder nicht die Wahrheit sagen. Er würde sich zur Seite bewegen oder die Pfeife und Lanzen der Feinde nicht mehr abhalten. Viele Krieger behaupten, so etwas gesehen zu haben. Die Schilde sind ebenfalls aus Kailiaukleder gemacht, aus der dicken Schwarte im Nacken, wo Haut und Muskulatur besonders ausgeprägt sind, um das Gewicht des Dreizacks zu tragen und die Stöße anderer Dreizacke abzuwehren, besonders bei den Frühlingskämpfen vor der Paarungszeit.«
»Nun gut, dann will ich glauben, daß der Künstler ehrlich gesprochen hat, daß er glaubt, die Wahrheit verkündet zu haben.«
»Soviel ist klar«, sagte Kog.
»Dennoch könnte das Ganze nur die zutreffende Wiedergabe einer Vision oder eines Traumes sein!«
»Der Teil des Leders, der sich auf den Traum oder die Vision bezieht«, sagte Kog, »ist deutlich abgesetzt von den anderen Teilen, die angeblich wirkliche Ereignisse darstellen. Es gibt außerdem keinen Grund zu der Annahme, der Künstler könnte oder würde über die Natur dieser Ereignisse, oder auch nur in ihrer weiteren Bedeutung, im Irrtum begriffen sein.«
»Der schwarze Gast muß nicht Zarendargar sein«, meinte Samos. »Die Ähnlichkeit könnte zufällig sein.«
»Wir halten das nicht für wahrscheinlich«, entgegnete Kog. »Die Entfernungen und Zeiten und die Altersbestimmung der Haut, die Einzelheiten der Darstellungen – alle diese Dinge deuten darauf hin, daß es sich um Zarendargar handelt. Überhaupt würden Angehörige ihrer Rasse oder ihre Nachkommen, die in die Barbarei zurückfallen, sich nur selten in die Einöde verirren. Es gibt dort zu wenig Deckung, und im Sommer ist die Hitze zu groß.«
»Die auf der Haut erzählte Geschichte spielte sich im Winter ab«, sagte Samos.
»Das ist zutreffend«, sagte Kog, »aber dafür gibt es im Ödland kaum Wild. Außerdem ist das Land zu offen, und Fährten lassen sich kaum verbergen. Unsere Artgenossen ziehen es vor, in Wald- oder Berggebieten zu überwintern.«
»Normalerweise suchen sie solchen Schutz«, bestätigte ich.
»Ja«, beharrte Kog.
»Dann nimmst du also an«, fuhr ich fort, »daß Zarendargar sich versteckt.«
»Ja«, erwiderte Kog, »im gefährlichen Ödland, wo wir ihn nicht vermuten.«
»Er weiß, daß man ihn suchen wird?« fragte ich.
»Ja«, sagte Kog, »ihm ist bekannt, daß er versagt hat.«
Ich dachte an die Vernichtung des riesigen Versorgungskomplexes in der goreanischen Arktis.
»Ich bin Zarendargar begegnet«, sagte ich, »und finde es nicht wahrscheinlich, daß er sich verstecken würde.«
»Wie willst du seine Anwesenheit im Ödland anders erklären?« wollte Kog wissen.
»Das kann ich nicht«, sagte ich.
»Wir suchen ihn seit zwei Jahren«, fuhr Kog fort. »Diese Haut ist unsere erste Spur.«
»Wie ist sie in deinen Besitz gelangt?« fragte ich.
»Sie wurde bei einem Tauschgeschäft erworben«, antwortete Kog. »Nach einer gewissen Zeit fielen sie einem unserer Agenten auf, der sie auf die Stahlwelten schickte.«
»So ein Leder scheint mir etwas zu sein, von dem sich der Künstler nicht gerade freiwillig trennen würde«, sagte ich.
»Da kannst du recht haben.«
Ich erschauderte. Zweifellos war der Künstler ermordet worden. Auf dem Tauschweg war der Gegenstand sodann in eine der großen Städte gelangt, vermutlich nach Thentis, der dem Ödland am nächsten liegenden Metropole.
»Wir suchen Zarendargar«, wiederholte Kog. »Wir sind seine offiziell ernannten Henker.«
Trotzdem kam mir die Angelegenheit irgendwie rätselhaft vor, wenngleich ich nicht genau zu sagen vermochte, was mich störte. Zum einen bezweifle ich, daß Zarendargar untergetaucht war. Doch anders ließ sich sein Aufenthalt im Ödland nicht erklären. Außerdem glaubte ich nicht recht, daß der Künstler wirklich tot war. Er schien mir ein fähiger, listiger Krieger zu sein. Andererseits war das Fell offenbar bei einem Tauschgeschäft eingesetzt worden. All die offenen Fragen beunruhigten mich. Ich verstand sie nicht.
»Sein Verbrechen war das Versagen?« fragte ich.
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