Als alles still war, sah ich, dass mein Dunkler vollständig war. Wo einst ruhelose Schatten hinter ihm herflatterten, war jetzt eine unglaublich negative Ausstrahlung, die so schwarz war wie der Mahlstrom. Hatte ich vorher geglaubt, dass er nur schön sei? Ah, aber jetzt war da kein menschliches Fleisch, um seine kühle Erhabenheit wegzufiltern. In seinen schwarzblauen Augen schienen sich eine Million Geheimnisse zu spiegeln, entsetzlich, aber exquisit. Als er lächelte, erschauerte die ganze Welt, und ich war nicht immun dagegen.
Trotzdem erschütterte mich das auf einer ganz anderen Ebene, da mich plötzlich Erinnerungen durchzuckten. Diese Erinnerungen waren fahl, wie etwas halb Vergessenes — aber sie drängten mich und verlangten Anerkennung, bis ich einen Ton von mir gab, meinen Kopf schüttelte und aufbegehrend in die Luft schlug. Sie waren ein Teil von mir, und obwohl mir klar war, dass Namen Schall und Rauch für unsereins waren, bestanden diese Erinnerungen darauf, der dunklen Kreatur einen Namen zu geben. Nahadoth.
Und der helle war Itempas.
Und ich ...
Ich stutzte verwirrt. Ich hob meine Hände vors Gesicht und starrte sie an, als ob ich sie noch nie gesehen hätte. In mir war das graue Licht, das ich vorher so gehasst hatte und das sich jetzt in all die Farben umgewandelt hatte, die vorher gestohlen worden waren. Durch meine Haut konnte ich diese Farben in meinen Venen und Nerven tanzen sehen. Auch wenn sie versteckt waren, waren sie nicht weniger kräftig. Nicht meine Kraft. Aber es war mein Fleisch, oder nicht? Wer war ich?
»Yeine«, sagte Nahadoth und klang verwundert.
Ein Zittern durchlief mich und dasselbe Gefühl des Gleichgewichts, das ich kurz zuvor schon einmal gehabt hatte. Plötzlich verstand ich. Es war mein Fleisch und auch meine Kraft. Ich war das, was sterbliches Leben aus mir gemacht hatte, was Enefa aus mir gemacht hatte, aber all das lag in der Vergangenheit. Von jetzt an konnte ich sein, wer immer ich wollte.
»Ja«, sagte ich und lächelte ihn an. »So heiße ich.«
Weitere Veränderungen waren nötig.
Nahadoth und ich wandten uns Itempas zu, der uns beobachtete, und seine Augen waren hart wie Topase.
»Nun, Naha«, sagte er, obwohl der Hass in seinen Augen allein mir galt. »Ich muss dir gratulieren, das ist ein feiner Handstreich. Ich dachte, es würde reichen, das Mädchen zu töten. Jetzt sehe ich, dass ich sie wohl besser vollends ausgelöscht hätte.«
»Das würde mehr Macht erfordern, als du besitzt«, sagte ich. Itempas runzelte kurz die Stirn. Es war so einfach, ihn zu lesen, wusste er das nicht? Er dachte immer noch, dass ich eine Sterbliche sei, und Sterbliche waren unbedeutend für ihn.
»Du bist nicht Enefa«, fuhr er mich an.
»Nein, das bin ich nicht.« Unwillkürlich musste ich lächeln. »Weißt du, warum Enefas Seele all diese Jahre hier verweilte? Das war nicht wegen des Steins.«
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich vor Zorn. Was für ein reizbares Wesen er war. Was sah Naha nur in ihm? Nein, das war Eifersucht, die da sprach. Gefährlich. Ich würde nicht die Vergangenheit wiederholen.
»Der Zyklus des Lebens und des Todes fließt aus mir heraus und durch mich hindurch«, sagte ich und berührte meine Brust. Darin schlug etwas — nicht ganz ein Herz — stark und gleichmäßig. »Selbst Enefa hat das nie gänzlich verstanden. Vielleicht war ihr schon immer vorherbestimmt, irgendwann zu sterben, und jetzt bin ich vielleicht die Einzige von uns, die nie absolut unsterblich sein wird. Aber gleichzeitig kann ich auch nie unwiderruflich sterben. Zerstöre mich, und ein Teil wird immer fortbestehen. Meine Seele, mein Fleisch, vielleicht auch nur meine Erinnerungen — aber es wird ausreichen, um mich zurückzuholen.«
»Dann war ich eben nicht gründlich genug«, sagte Itempas, und sein Ton versprach nichts Gutes. »Ich werde das beim nächsten Mal korrigieren.«
Nahadoth trat vor. Seine dunkle Aura, die ihn umgab, machte ein leises, knackendes Geräusch, als er sich bewegte, und weiße Flecken — Feuchtigkeit aus der Luft, die gefror — schwebten hinter ihm zu Boden.
»Es wird kein nächstes Mal geben, Tempa«, sagte er mit beängstigender Sanftheit. »Der Stein ist fort, und ich bin frei. Ich werde dich zerreißen, wie ich es mir in all den langen Nächten in Gefangenschaft ausgemalt habe.«
Itempas’ Aura flackerte wie weiße Flammen auf, und seine Augen glühten wie Zwillingssonnen. »Ich habe dich bereits einmal gebrochen auf die Erde geworfen, Bruder, und ich kann es wieder tun ...«
»Genug«, sagte ich.
Nahadoths Antwort war ein Zischen. Er kauerte sich nieder, und seine Hände wurden plötzlich zu riesigen Klauen. Etwas wischte an seine Seite: Si’eh war wie ein katzenartiger Schatten bei ihm. Kurue bewegte sich, als ob sie sich zu Itempas gesellen wollte, aber Zhakkarns Speer war sofort an ihrer Kehle.
Sie alle beachteten mich nicht. Ich seufzte.
Das Wissen meiner Macht war in mir, so wie man instinktiv weiß, wie man denkt und wie man atmet. Ich schloss meine Augen und suchte danach, dann spürte ich, wie sie sich in mir entfaltete und ausbreitete. Sie war bereit. Begierig.
Das würde. Spaß machen.
Der erste Machtstoß, den ich durch den Palast sandte, war stark genug, um jeden ins Taumeln geraten zu lassen. Sogar meine beiden streitsüchtigen Brüder, die überrascht in Schweigen verfielen. Ich beachtete sie nicht, schloss meine Augen, zapfte die Energie an und formte sie nach meinem Willen. Da war so viel! Wenn ich nicht vorsichtig war, würde ich eher zerstören denn erschaffen. Irgendwo war mir bewusst, dass ich von farbigem Licht umgeben war: das Grau der Wolken, aber auch das Rosa des Sonnenuntergangs und das Weißgrün des Sonnenaufgangs. Mein Haar wehte darin und glänzte. Mein Gewand umwehte meine Knöchel, was mich störte. Ein kurzes Flackern meines Willens und es wurde zur Kleidung eines Darr-Kriegers; eine feingewobene Tunika ohne Ärmel und praktische, wadenlange Hosen. Sie hatten einen unpraktischen, silbernen Glanz, aber ... nun, schließlich war ich eine Göttin.
Wände — rau, braun, Baumrinde — entstanden um uns herum. Sie umschlossen den Raum nicht ganz; hier und da gab es Lücken, aber während ich hinschaute, füllten sie sich mit Zweigen, die wuchsen und sich teilten, und dann sprossen Blätter heraus. Der Himmel über uns war immer noch sichtbar, aber gedämpfter, was wir einem Blätterdach zu verdanken hatten, das sich nun dort ausbreitete. Durch dieses Blätterdach wuchs ein gigantischer Baumstamm, der sich knorrig bis hoch in den Himmel schraubte.
Um genau zu sein, durchstachen die drei obersten Äste den Himmel. Wenn ich von oben auf diese Welt schaute, würde ich weiße Wolken, blaue Ozeane, braunes Festland und einen einzigen, gigantischen Baum sehen, der die glatte Rundung des Planeten unterbricht. Wenn ich dann näher heranfliege, würde ich die Wurzeln wie Berge sehen, die Elysiumstadt zwischen ihren Gabeln einbetten. Ich würde Zweige sehen, die so lang sind wie Flüsse. Ich würde Menschen auf der Erde sehen, die aufgewühlt und entsetzt aus ihren Häusern krabbeln und von den Bürgersteigen aufstehen, um erstaunt den großen Baum anzustarren, der sich um den Palast des Elysiumvaters windet.
Tatsächlich sah ich all diese Dinge, ohne meine Augen jemals zu öffnen. Dann aber öffnete ich sie doch und sah meine Brüder und Kinder, die mich anstarrten.
»Genug«, sagte ich noch einmal. Dieses Mal beachteten sie mich. »Diese Welt kann nicht noch einen Krieg der Götter überstehen. Ich werde das nicht erlauben.«
»Du wirst das nicht erlauben?« Itempas ballte seine Fäuste, und ich fühlte das schwere, Blasen erzeugende Glühen seiner Macht. Einen Moment lang machte es mir Angst, und das aus gutem Grund. Er hatte das Universum seit Anbeginn der Zeit nach seinem Willen geformt — er war mir in Erfahrung und Weisheit weit überlegen. Ich wusste nicht einmal, wie ein Gott zu kämpfen. Er griff nicht an, weil wir zu zweit gegen ihn allein waren, aber das war das Einzige, das ihn zurückhielt.
Читать дальше