»Naha«, sagt er leise. »Schau dich an. All das wegen einer Sterblichen?« Er seufzt und schüttelt seinen Kopf. »Ich hatte gehofft, dass du, wenn du erst einmal unter diesem Gesindel lebst, deine Fehler einsiehst. Jetzt sehe ich, dass du dich nur an die Gefangenschaftgewöhnt hast.«
Er macht einen Schritt nach vorne und tut das, was jeder andere in diesem Zimmer für Selbstmord gehalten hätte: Er berührt Nahadoth. Es ist eine kurze Geste, seine Finger streifen nur leicht über das rissige Porzellan von Nahadoths Gesicht. In dieser Berührung liegt so viel Sehnsucht, dass mir das Herz schmerzt.
Aber macht das noch einen Unterschied? Itempas hat Enefa getötet, er hat seine eigenen Kinder getötet, er hat mich getötet. Er hat ebenfalls etwas in Nahadoth getötet. Kann er das nicht sehen?
Vielleicht sieht er es, denn sein weicher Ausdruck verschwindet, und kurz darauf nimmt er seine Hand fort.
»So sei es«, sagt er und wird kalt. »Das hier ermüdet mich. Enefa war eine Plage, Nahadoth. Sie hat das reine, vollkommene Universum, das du und ich erschaffen hatten, genommen und es beschmutzt. Ich habe den Stein behalten, weil ich sie wirklich mochte, egal, was du denkst ... und weil ich dachte, es würde helfen, deine Meinung zu ändern.«
Er macht eine Pause und schaut hinunter auf meine Leiche. Der Stein ist in mein Blut gefallen, weniger als eine Handbreit von meiner Schulter entfernt. Obwohl Nahadoth vorsichtig war, als er mich ablegte, ist mein Kopf haltlos zur Seite gekippt. Ein Arm ist nach oben gebogen, als ob er versuchen wollte, den Stein zu umarmen und näher zu mir hin zu ziehen. Das Bild ist voller Ironie: eine sterbliche Frau, die bei dem Versuch getötet wurde, sich der Macht einer Göttin zu bemächtigen. Und die Geliebte eines Gottes zu werden.
Ich glaube, Itempas wird mich in eine ganz besonders schreckliche Hölle werfen.
»Ich denke, es ist Zeit, dass unsere Schwester vollends stirbt«, sagt Itempas. Ich kann nicht sagen, ob er den Stein ansieht oder mich. »Lass ihre Plage mit ihr sterben, und dann kann unser Leben wieder so sein, wie es einmal war. Hast du diese Zeiten nicht vermisst?«
Ich bemerke, wie Dekarta sich bei diesen Worten versteift. Er scheint der einzige der drei Sterblichen zu sein, der begreift, was Itempas meint.
»Ich werde dich auch dann nicht weniger hassen, Tempa«, stößt Nahadoth hervor, »wenn wir die letzten Überlebenden in diesem Universum sind.«
Dann wird er zu einem brausenden schwarzen Sturm, der angreift, und Itempas ist ein knisterndes weißes Feuer, das sich wappnet, um ihm zu begegnen. Durch die Erschütterung ihres Aufeinandertreffens zerbricht das Glas des Ritualzimmers. Sterbliche schreien, und ihre Stimmen sind fast nicht zu hören, als kalte, dünne Luft hereinheult, um die Leere zu füllen. Sie fallen zu Boden, während Nahadoth und Itempas in die Höhe schnellen. Aber meine Aufmerksamkeit wird kurz auf Scimina gelenkt. Ihr Blick fällt auf das Messer; das mich getötet hat — Viraines Messer, das nicht weit von ihr entfernt liegt. Relad liegt ausgehreitet und benebelt zwischen Glassplittern und Trümmern des zerbrochenen Sockels. Scimina kneift ihre Augen zusammen.
Si’eh brüllt auf seine Stimme ist ein Echo von Nahadoths Kampfschrei. Zhak- kam dreht sich zu Kurue um, und ihr Speer erscheint in ihrer Hand.
Im Zentrum des Ganzen liegen unbemerkt und unberührt mein Körper und der Stein, die sich nicht bewegen.
Da sind wir nun.
Ja.
Verstehst du, was geschehen ist?
Ich bin tot.
Ja. In der Anwesenheit des Steins, der das, was von meiner Macht noch übrig ist, beherbergt.
Ist das der Grund, warum ich noch hier bin und all diese Dinge sehen kann?
Ja. Der Stein tötet die Lebenden. Du bist tot.
Du meinst ... ich kann wieder ins Leben zurückkehren? Erstaunlich. Wie praktisch, dass Viraine sich gegen mich gewandt hat.
Ich ziehe es vor, das als Schicksal anzusehen.
Also was nun?
Dein Körper muss sich verändern. Er wird nicht länger in der Lage sein, zwei Seelen in sich zu tragen; das ist eine Fähigkeit, die nur Sterbliche besitzen. Ich habe euch so erschaffen, mit Talenten, die wir nicht besitzen. Aber ich habe mir nie träumen lassen, dass es dich so stark machen würde. Stark genug, mich zu schlagen, trotz all meiner Anstrengungen. Stark genug, um an meine Stelle zu treten.
Was? Nein. Ich will nicht an deine Stelle treten. Du bist du. Ich bin ich. Dafür habe ich gekämpft.
Und gut gekämpft. Aber meine Essenz, alles, was ich bin, ist notwendig, damit diese Welt fortbestehen kann. Wenn ich nicht diejenige sein kann, die diese Essenz wiederherstellt, dann musst du das tun.
Aber ...
Ich bereue nichts, Tochter, kleine Schwester, würdige Erbin. Das solltest du auch nicht tun. Ich wünschte nur ...
Ich kenne deinen Wunsch.
Tust du das wirklich?
Ja. Sie sind blind vor Stolz, aber darunter ist immer noch Liebe. Die Drei sind dazu bestimmt, zusammen zu sein. Ich werde dafür sorgen, dass es geschieht.
Ich danke dir.
Ich danke dir. Und leb wohl.
Ich kann eine Ewigkeit lang nachdenken. Ich bin tot. Ich habe alle Zeit der Welt.
Aber ich war noch nie besonders geduldig.
In und um das Glaszimmer herum — das kein Glas mehr hat und -wahrscheinlich auch nicht länger als Zimmer durchgeht — tobt der Kampf.
Itempas und Nahadoth haben ihren Kampf in den Himmel verlagert, den sie sich einst geteilt haben. Uber den Staubpartikeln, zu denen sie geworden sind, brechen dunkle Streifen in die Helligkeit der Dämmerung ein, wie Streifen der Nacht, die sich über den Morgen legen. Ein gleißender weißer Strahl, wie von der Sonne, nur tausendmal heller, schießt über sie hinweg, um sie zu zerstören. Es ist sinnlos. Es ist Tag. Nahadoth würde bereits in seinem menschlichen Gefängnis schlafen, wenn er nicht Freigang von Itempas gewährt bekommen hätte. Itempas kann diesen Freigang jederzeit nach Belieben widerrufen. Er muss wohl Spaß haben.
Scimina hat Viraines Messer an sich genommen. Sie hat sich auf Reladgeworfen und versucht, ihn aufzuschlitzen. Er ist stärker, aber sie ist in der besseren Position, und die Stärke des Wahnsinns verschafft ihr einen Vorteil. Relads Augen sind entsetzt geweitet, vielleicht hat er schon immer vor so etwas Angst gehabt.
Si’eh, Zhakkarn und Kurue umkreisen sich mit Ausfallschritten in einem tödlichen Metall-und-Klauen-Tanz. Kurue hat ein paar glänzende Bronzeschwerter herbeigezaubert, um sich zu verteidigen. Auch dieser Wettbewerb ist bereits entschieden; Zhakkarn ist der Inbegriff des Kampfes, und Si’eh hat die Macht der grausamen Kinder. Aber Kurue ist gerissen, und sie kann die Freiheit bereits schmecken. Sie wird nicht so einfach sterben.
Inmitten all dieser Vorgänge bewegt sich Dekarta zu meinem Körper. Er hält an und kämpft sich auf die Knie; schließlich rutscht er in meinem Blut aus und fällt mit schmerzverzerrtem Gesicht halb auf mich. Dann wird sein Ausdruck härter. Er schaut zum Himmel auf, wo sein Gott kämpft, dann hinunter. Auf den Stein. Er ist die Quelle der Macht des Arameri-Clans; die Verkörperung ihrer Pßicht. Vielleicht hofft er, dass er, wenn er diese Pßicht erfüllt, Itempas an den Wert des Lebens erinnern wird. Vielleicht hat er sich noch ein kleines bisschen Glauben erhalten. Vielleicht liegt es nur daran, dass er vor vierzig Jahren seine Frau getötet hat, um zu beweisen, wie ernst er es meint. Jetzt etwas anderes zu tun, das würde ihren Tod verhöhnen.
Ergreift nach dem Stein.
Dieser ist verschwunden.
Aber gerade war er noch da und lag in meinem Blut. Dekarta stutzt und sieht sich um. Sein Blick wird von einer Bewegung angezogen. Das Loch in meiner Brust, das er durch den zerrissenen Stoß meines Mieders sehen kann: die Ränder der Wunde bewegen sich aufeinander zu und schließen sich. Als die Linie der Wunde schrumpft, erhascht Dekarta ein kurzes Aufblitzen von grauem Licht. In mir.
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