»Kann ich dir helfen?«, fragte ich. »Irgendwie?«
»Spiel mit mir.«
»Spiel ...« Aber ich hielt inne, als ich Zhakkarns strengen Blick auffing. Ich dachte einen Moment nach, dann streckte ich meine Hände mit den Handflächen nach oben aus. »Leg deine Hände auf meine.«
Das tat er. Seine Hände waren größer als meine, und sie zitterten wie die eines alten Mannes. Es war so falsch. Aber er grinste. »Glaubst du, dass du schnell genug bist?«
Ich schlug nach seinen Händen und punktete. Er bewegte sich so langsam, dass ich währenddessen ein Gedicht hätte aufsagen können. »Offensichtlich schon.«
»Anfängerglück. Lass mal sehen, ob du das noch mal schaffst.«
Wieder schlug ich nach seinen Händen. Diesmal war er schneller, und ich hätte beinahe danebengeschlagen. »Ha! Also gut, aller guten Dinge sind drei.« Ich schlug noch einmal, und diesmal ging es ins Leere.
Überrascht sah ich auf zu ihm. Er grinste und war sichtlich jünger, wenn auch nicht viel. Ein Jahr vielleicht. »Siehst du? Ich sagte doch, du bist zu langsam.«
Ich verstand und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Hast du vielleicht Lust, Fangen zu spielen?«
Es war Mitternacht. Mein Körper wollte schlafen und nicht spielen, und das machte mich langsam. Dadurch hatte Si’eh einen Vorteil; erst recht, nachdem er sich genug erholt hatte und rennen konnte. Danach jagte er mich durch den ganzen Raum und amüsierte sich prächtig, da ich ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Es tat ihm sichtlich gut, dass ich mitmachte, bis er schließlich von selbst anhielt und wir beide japsend zu Boden fielen. Endlich sah er wieder normal aus — ein dürrer neun- oder zehnjähriger Junge, hübsch und sorglos. Ich stellte den Grund für meine Liebe zu ihm nicht länger in Frage.
»Also, das hat Spaß gemacht«, sagte Si’eh schließlich. Er setzte sich auf, reckte sich und fing an, die toten Sphären zu sich zu rufen. Sie rollten über den Boden zu ihm hin, er hob sie auf, tätschelte sie liebevoll, hob sie hoch und schubste jede geschickt in eine Drehbewegung, bevor er sie losließ und sie davonschwebten. »Und was ist in dem Kästchen?«
Ich warf Zhakkarn, die sich an unserem Spiel nicht beteiligt hatte, einen Blick zu. Ich vermutete, dass Kinderspiele sich nicht besonders gut mit dem Wesen des Kampfes vertrugen. Sie nickte mir einmal zu und diesmal zustimmend. Ich errötete und sah weg.
»Briefe«, sagte ich und legte meine Hand auf das Kästchen meiner Mutter. »Sie sind ...« Ich zögerte, weil mir die Worte im Hals stecken blieben. »Die Briefe meines Vaters an meine Mutter und einige Entwürfe von ihm an sie, die er nicht abgeschickt hatte. Ich glaube ...« Ich schluckte. Meine Kehle war plötzlich eng, meine Augen brannten. In Trauer liegt keine Logik.
Si’eh ignorierte mich, schob meine Hand zur Seite und öffnete das Kästchen. Ich gewann meine Fassung wieder, während er jeden einzelnen Brief herausnahm, überflog, auf den Boden legte und schließlich aufstand, um das Muster zu erweitern. Ich hatte keine Ahnung, was er tat. Schließlich legte er den letzten Brief in die Ecke eines fünf mal fünf Schritte großen Quadrats. Ein kleineres Quadrat an der Seite war für die Briefe meiner Mutter. Dann stand er auf, verschränkte seine Arme und starrte hinunter auf das Durcheinander.
»Es fehlen einige«, sagte Zhakkarn. Ich erschrak und stellte fest, dass sie hinter mir stand und ebenfalls auf das Muster hinunterstarrte.
Verwirrt schaute ich auch hin, aber ich konnte aus dieser Entfernung weder die feine Handschrift meiner Mutter noch die etwas breitgezogene Handschrift meines Vaters lesen. »Woher wisst ihr das?«
»Sie beziehen sich beide auf vorangegangene Briefe«, sagte Zhakkarn und zeigte hier und da auf bestimmte Seiten.
»Und die Kette ist an viel zu vielen Stellen unterbrochen«, fügte Si’eh hinzu, während er vorsichtig zwischen den Seiten umherging. Ab und zu hockte er sich hin und schaute sich die Briefe genauer an. »Deine Eltern waren Gewohnheitstiere. Sie schrieben mit der Genauigkeit eines Uhrwerks ein Jahr lang einmal die Woche. Aber hier fehlen sechs — nein, sieben Wochen. Es gibt keine Entschuldigungen für die verpassten Wochen, und da sehe ich den Bezug auf die früheren Briefe.« Er sah mich über die Schulter hinweg an. »Wusste noch jemand außer dir, dass es dieses Kästchen dort gab? Moment, nein, das ist zwanzig Jahre her — der halbe Palast könnte es gewusst haben.«
Ich schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Sie waren verborgen. Der Ort schien unberührt.«
»Das kann auch bedeuten, dass es so lange her ist, dass der Staub Zeit hatte, sich zu setzen.« Si’eh richtete sich auf und drehte sich zu mir um. »Was wolltest du dort eigentlich finden?«
»Viraine ...« Ich biss die Zähne zusammen. »Viraine behauptet, dass er der Geliebte meiner Mutter war.«
Si’eh zog seine Augenbrauen hoch und tauschte einen Blick mit Zhakkarn aus. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Wort ›Lie- be‹ mit dem in Verbindung bringen würde, was sie mit ihm gemacht hat.«
Angesichts dieser beiläufigen Bestätigung konnte ich nicht protestieren. Ich setzte mich hin.
Si’eh ließ sich neben mir auf seinen Bauch plumpsen und stützte sich auf den Ellenbogen auf. »Was? Halb Elysium ist zu irgendeinem Zeitpunkt mit der anderen Hälfte im Bett.«
Ich schüttelte meinen Kopf. »Nichts. Es ist nur ... ein bisschen viel auf einmal.«
»Er ist nicht dein Vater oder so was, wenn du dir darüber Sorgen machst.«
Ich verdrehte meine Augen und hob meine braune Darre-Hand. »Tue ich nicht.«
»Lust wird oft als Waffe benutzt«, sagte Zhakkarn. »Darin liegt keine Liebe.«
Ich schaute sie finster an und war von dieser Vorstellung überrascht. Mir gefiel es immer noch nicht, dass meine Mutter mit Viraine zusammen gewesen sein sollte, aber es half, die Tatsache als Taktik anzusehen. Nur, was hatte sie damit erreichen wollen? Was wusste Viraine, das kein anderer in Elysium wusste? Besser gesagt, was hätte der junge, verliebte Viraine, der neu in Elysium war, zu viel Selbstbewusstsein hatte und eifrig darauf bedacht war, zu gefallen, wohl eher verraten als jeder andere Arameri?
»Etwas über Magie«, murmelte ich zu mir selbst. »Das muss es gewesen sein, was sie aus ihm herausholen wollte. Etwas über ... euch?« Ich warf Zhakkarn einen Blick zu.
Zhakkarn zuckte mit den Schultern. »Wenn sie in derartige Geheimnisse eingeweiht wurde, hat sie sie nie angewendet.«
»Hmm. Wofür ist Viraine hier noch verantwortlich?«
»Magiebenutzung«, sagte Si’eh und zählte an den Fingern ab. »Alles von Routine bis zu, na ja, uns. Informationsverbreitung — er ist der Verbindungsmann zwischen Dekarta und dem Orden der Itempaner. Er beaufsichtigt alle wichtigen Zeremonien und Rituale.«
Si’eh brach ab. Ich schaute ihn an, und Überraschung malte sich auf seinem Gesicht. Ich warf Zhakkarn einen Blick zu, die nachdenklich aussah.
Zeremonien und Rituale. In meinen Bauch spürte ich ein aufgeregtes Kribbeln, als mir klar wurde, was Si’eh meinte. Ich setzte mich kerzengerade auf. »Wann war die letzte Nachfolge?«
»Dekartas war vor vierzig Jahren«, sagte Zhakkarn.
Meine Mutter war bei ihrem Tod fünfundvierzig. »Sie wäre zu jung gewesen, um zu verstehen, was bei der Zeremonie vor sich ging.«
»Sie war nicht bei der Zeremonie«, sagte Si’eh. »Dekarta hatte mir befohlen, an dem Tag mit ihr zu spielen, damit sie beschäftigt ist.«
Das war überraschend. Warum hätte Dekarta meine Mutter, seine Erbin, von der Zeremonie fernhalten sollen, die sie doch eines Tages selbst durchlaufen musste?
Ein intelligentes Kind hätte ihren Sinn begreifen können. Ging es darum, dass sie einen Diener während der Zeremonie töteten? Ich konnte mir keinen Arameri vorstellen, am allerwenigsten meinen Großvater, der diese harte Realität selbst einem Kind vorenthalten hätte.
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