Der Physiker nickte, ergriff eine Blechbüchse und ein paar Schutzhandschuhe und rannte aus dem Labor. Im Tunnel wäre er fast mit dem Automaten zusammengestoßen, der ihm Platz machte, als er ihn erkannte. Er lief nach oben, zog im Laufen die Handschuhe an und stürmte in die Richtung, wo sich die vom Beschützer ausgebrannte Bresche befand. Vor dem flachen Trichter stürzte er auf die Knie und riss in größter Eile Stücke des von der Glut erstarrten, verglasten Sandes aus der Erde undwarf sie in die Büchse. Dann sprang er auf und lief zur Rakete zurück. Im Labor stand jemand. Der Physiker blinzelte geblendet. Es war der Kybernetiker. „Wo ist der Doktor?“ rief er. „Er ist noch nicht zurück.“
„Geh mir aus dem Weg. Am besten setz dich dorthin, an die Wand.“ Wie vermutet, zeigte der glasige Sand eine blaßlila Farbe. Der Physiker hatte absichtlich ein Stück Kreide von dieser Farbe gewählt. Der Doppelt wandte ihm das Gesicht zu, offenbar hatte er auf ihn gewartet. Der Physiker schüttete den Inhalt der Büchse vor der Tafel auf den Fußboden.
„Bist du verrückt!“ rief der Kybernetiker und sprang von seinem Platz auf. Der Zähler am anderen Tischende war erwacht und begann rasch zu ticken. „Sei still! Stör mich bitte nicht!“
In der Stimme des Physikers schwang solche Wut mit, dass der Kybernetiker wie angewurzelt an der Wand stehenblieb. Der Physiker warf einen Blick auf die Uhr. Zwölf Minuten waren vergangen.
Gleich konnte der Doktor zurückkehren. Er bückte sich, deutete auf die trüben, lilafarbenen Brocken des halbgeschmolzenen Sandes. Er hob eine Handvoll davon auf, drückte sie mit der offenen Hand an die Stelle, wo die Beine des Stehenden mit lila Kreide angedeutet waren, zerrieb ein paar Sandkrümel auf der Zeichnung und blickte dem Doppelt in die Augen. Dann schüttete er den Rest des Staubs auf den Fußboden, trat ein paar Schritt zurück und ging dann mit entschlossenen Schritten nach vorn, als ob er weit gehen wollte, trat in die Mitte des lila Flecks, stand eine Weile so, schloss die Augen und ließ sich langsam mit gelockerten Muskeln fallen. Dumpf schlug sein Körper auf den Fußboden. So lag er ein paar Sekunden, dann sprang er auf, rannte zum Tisch, ergriff den Geigerzähler, trug ihn wie einen Scheinwerfer vor sich her und trat an die Tafel. Kaum hatte sich die Mündung des schwarzen Zylinders den mit Kreide gezeichneten Beinen genähert, ließ sich ein heftiger Wirbel vernehmen. Der Physiker schob mehreremal den Zähler an die Tafel und zog ihn zurück, um den Effekt vor dem unbewegt zuschauenden Doppelt zu wiederholen, dann wandte er sich ihm zu und schob die Mündung des Geigerzählers langsam an seine entblößten Sohlen heran. Der Zähler schnurrte. Der Doppelt stieß einen schwachen Laut aus, als hätte er sich verschluckt. Ein paar Sekunden lang — dem Physiker kamen sie wie eine Ewigkeit vor — sah er ihm in die Augen, mit einem blassen, forschenden Blick. Dem Physiker traten die Schweißtropfen auf die Stirn. Da lockerte der Doppelt plötzlich den Torso, schloss die Augen und ließ sich ohnmächtig auf die Kissen sinken; die knotigen Fingerchen beider Hände spannten sich seltsam.
So ruhte er eine Weile wie ein Toter. Plötzlich schlug er die Augen auf, setzte sich auf und starrte dem Physiker ins Gesicht. Der nickte, stellte den Apparat auf den Tisch, stieß mit dem Fuß an die Tafel und sagte dumpf zum Kybernetiker: „Er hat begriffen.“
„Was hat er begriffen?“ stammelte der Kybernetiker, der die Szene entgeistert verfolgt hatte. „Dass er sterben muß.“ Der Doktor trat ein, sah die Tafel, die glasigen Krümel auf dem Boden, blickte sie an. „Was ist hier los? Was bedeutet das?“
„Nichts Besonderes. Du hast mittlerweile schon zwei Patienten.“ Der Physiker nahm, als der Doktor ihn verblüfft anstarrte, gleichgültig den Zähler vom Tisch und hielt die Mündung an seinen Körper.
Der radioaktive Staub war in den Stoff der Kombination gedrungen. Der Geigerzähler ratterte schreckenerregend. Das Gesicht des Doktors lief rot an. Er stand eine Weile reglos da, es sah so aus, als würde er die Spritze, die er in der Hand hielt, auf den Fußboden werfen. Langsam wich das Blut aus seinem Gesicht. „So?“ sagte er. „Also gut. Komm mit.“ Kaum hatten die beiden das Labor verlassen, warf sich der Kybernetiker den Schutzmantel über, holte den Reinigungshalbautomaten aus der Wandnische hervor und ließ ihn auf die restlichen glasigen Krümel los. Der Doppelt lag da, ohne sich zu rühren, und sah der Geschäftigkeit zu. Einige Male hustete er schwach. Nach zehn Minuten kam der Physiker mit dem Doktor zurück. Er trug einen weißen Leinenanzug. Hals und Hände waren mit dicken Bandagen bedeckt. „In Ordnung“, sagte er fast fröhlich zum Kybernetiker. „Nichts Besonderes. Erster Grad, oder nicht mal das.“ Der Doktor und der Kybernetiker bemühten sich, dem Doppelt hochzuhelfen. Der hattebegriffen, worum es ging, stand auf und verließ folgsam das Labor. „Und wozu das alles?“ Der Kybernetiker schritt nervös im Raum auf und ab und steckte das schwarze Maul des Geigerzählers in alle Ritzen und Winkel. Von Zeit zu Zeit wurde das Ticken etwas schneller. „Du wirst sehen“, sagte der Physiker ruhig. „Wenn er den Kopf auf dem richtigen Fleck hat, wirst du sehen.“
„Warum hast du nicht den Schutzanzug angezogen? Hat dir die eine Minute leid getan?“
„Ich musste ihm das ganz einfach zeigen“, antwortete der Physiker. „So natürlich wie möglich, ohne Getue, verstehst du?“ Sie verstummten. Der Zeiger der Wanduhr glitt langsam weiter. Schläfrigkeit befiel den Kybernetiker. Der Physiker fummelte ungeschickt mit den Fingern, die aus den Bandagen hervorsahen, um sich eine Zigarette anzustecken. Der Doktor stürzte mit befleckter Schürze herein.
Wütend ging er auf den Physiker zu. „Du bist es gewesen, du! Was hast du mit ihm angestellt?“
„Was ist denn los?“ Der Physiker hob den Kopf. „Er will nicht liegen! Ließ sich kaum verbinden, schon steht er auf und geht zur Tür. Da hast du ihn…“, fügte er etwas leiser hinzu. Der Doppelt kam herein. Er hinkte unbeholfen. Das Ende einer aufgerollten Mullbinde schleifte auf dem Fußboden hinter ihm her. „Du kannst ihn nicht gegen seinen Willen behandeln“, entgegnete der Physiker kühl.
Er warf die Zigarette auf den Fußboden, erhob sich und trat sie mit dem Fuß aus. „Wir werden wohl den Kalkulator aus dem Navigationsraum nehmen, wie? Er hat den größten Extrapolationsbereich“, wandte er sich an den Kybernetiker. Der zuckte zusammen, sprang hoch, blickte schlaftrunken vor sich hin und ging rasch hinaus. Die Tür ließ er offen. Der Doktor stand mitten im Labor und stemmte die Fäuste in die Taschen seiner Schürze. Er sah den Riesen an, der langsam näher kam, und atmete auf. „Du weißt es schon?“ fragte er. „Du weißt es, nicht wahr?“ Der Doppelt hustete. Die drei anderen schliefen den ganzen Tag über. Als sie aufwachten, brach bereits die Abenddämmerung herein. Sie kamen in die Bibliothek. Ein erschreckender Anblick bot sich ihnen. Die Tische, der Fußboden, alle freien Sessel waren mit Stößen von Büchern, Atlanten, aufgeschlagenen Alben bedeckt. Hunderte vollgezeichneter Bogen lagen verstreut auf dem Boden, Teile von Apparaten, vermischt mit Büchern, bunte Stiche, Konservendosen, Teller, optische Gläser, Arhythometer, Spulen.
Die Tafel lehnte an der Wand, kreidiges Wasser lief an ihr herunter. Finger, Ärmel und Knie der drei Männer waren mit Kreide beschmiert. Sie saßen dem Doppelt gegenüber, unrasiert, mit geröteten Augen, und tranken Kaffee aus großen Tassen. In der Mitte, wo zuvor der Tisch gestanden hatte, spreizte sich der große Elektronenrechner. „Wie geht es?“ fragte der Koordinator auf der Schwelle.
„Ausgezeichnet. Wir haben schon sechzehnhundert Begriffe fixiert“, antwortete der Kybernetiker.
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