„Wir könnten diese Frage beantworten, wenn wir mehr Kenntnisse besäßen“, beharrte der Chemiker. „Das ist nicht so einfach“, entgegnete der Koordinator. „Alles, was hier geschieht, ist ein Glied in der Kette eines langwierigen historischen Prozesses. Der Gedanke an Hilfe resultierte aus der Annahme, die Gesellschaft teile sich in ›Gute‹ und in ›Böse‹.“
„Stopp!“
rief der Chemiker. „Sag lieber: in Verfolgte und Verfolger. Das ist nicht dasselbe.“
„Einverstanden… Stell dir vor, zum Zeitpunkt der Religionskriege, vor mehreren hundert Jahren, sei eine hochentwickelte Rasse auf die Erde gekommen und habe sich in den Konflikt auf der Seite der Schwachen einmischen wollen. Gestützt auf ihre Macht, verbieten sie das Verbrennen von Ketzern, verbieten sie die Verfolgung der Andersgläubigen und so weiter. Glaubst du, sie hätten ihren Rationalismus auf der Erde verbreiten können? Damals war doch fast die ganze Menschheit gläubig, sie hätten sie nach und nach bis zum letzten Menschen ausrotten müssen und wären mit ihrenrationalen Ideen allein geblieben!“
„Was dann, glaubst du wirklich, dass keine Hilfe möglich ist?“ rief der Chemiker entrüstet.
Der Koordinator sah ihn lange an, ehe er antwortete: „Hilfe, mein Gott, was bedeutet Hilfe? Das, was hier geschieht, was wir hier sehen, ist das Ergebnis eines bestimmten gesellschaftlichen Aufbaus. Man müsste ihn umstürzen und müsste einen neuen, besseren schaffen. Wie sollen wir das machen? Es sind doch Wesen mit einer anderen Physiologie, mit einer anderen Psychologie, sie haben eine andere Geschichte als wir. Du kannst hier nicht das Modell unserer Zivilisation einführen. Du müßtest den Plan einer anderen entwerfen, die auch noch nach unserem Abflug funktionierte. Natürlich habe ich seit längerer Zeit angenommen, dass sich einige von euch mit solchen Gedanken herumtragen, wie sie der Ingenieur und der Chemiker äußerten. Ich glaube, dass auch der Doktor dieser Meinung war und deshalb Wasser auf das Feuer verschiedener von der Erde herrührender Analogien goß — stimmt's?“
„Stimmt“, sagte der Doktor. „Ich befürchtete, ihr würdet in einem Anfall von Edelmut hier ›Ordnung‹ machen wollen, was, in die Praxis übertragen, Terror bedeutet hätte.“
„Und vielleicht wissen die Verfolgten, wie sie leben wollen, und sind nur zu schwach, sich durchzusetzen“, sagte der Chemiker. „Wenn wir nur das Leben einer Gruppe von Verurteilten retteten, wäre das schon viel.…“
„Wir haben ja schon einen gerettet“, warf der Koordinator ein.
„Vielleicht weißt du, was wir weiter mit ihm tun sollen.“ Er erhielt keine Antwort. „Wenn ich mich nicht irre, ist der Doktor ebenfalls für den Start“, sagte der Koordinator. „Gut. Da ich ihn auch befürworte, bedeutet das die Mehrheit…“ Er verstummte. Seine Augen — er saß mit dem Blick zur Tür — weiteten sich. Durch die Stilk drang nur das schwache Plätschern von Wasser irgendwoher aus der Finsternis. Alle wandten sich um. In der offenen Tür stand ein Doppelt.
„Wie kommt der…“ Dem Physiker erstarben die Worte auf den Lippen. Er erkannte seinen Irrtum.
Das war nicht ihr Doppelt. Der saß eingeschlossen im Verbandsaal. Auf der Schwelle stand ein großes braunhäutiges Individuum mit einem tief gebeugten kleinen Torso und einem Kopf, der fast den Türrahmen berührte. Er war in einen erdfarbenen Stoff gehüllt, der von oben glatt herunterhing und wie ein Kragen den kleinen Torso umgab. Der Kragen war mit einem grünen Drahtgeflecht umwickelt. Durch einen Schlitz an der Seite des Umhangs war ein breiter, metallisch leuchtender Gürtel zu erkennen, der sich fest um den Körper schlang. Der Doppelt stand reglos da. Ein durchsichtiger, trichterförmiger Schleier verhüllte das runzlige, flache Gesicht mit den zwei großen blauen Augen. Graue, dünne Streifen hingen davon herab und umschlangen den kleinen Torso mehrfach, sie waren vorn über Kreuz geschnürt und bildeten dort eine Art Nest, in dem die ebenso geschnürten Hände ruhten. Nur die knotigen Finger ragten heraus und berührten einander mit den Spitzen. Die Männer waren von diesem Anblick völlig überrascht. Der Doppelt beugte sich noch mehr vor, räusperte sich umständlich und trat langsam nach vorn.
„Wie ist er hereingekommen…? Der Schwarze ist im Tunnel.…“, flüsterte der Chemiker. Der Doppelt wich zurück, er ging hinaus und stand eine Weile im Halbdämmer des Flurs, dann kam er zum zweitenmal herein, richtiger: Er steckte nur den Kopf durch die Tür. „Er fragt, ob er hereinkommen darf…“, flüsterte der Ingenieur und platzte heraus: „Bitte, kommen Sie, kommen Sie nur!“ Er stand auf und stellte sich an die Wand. Die anderen folgten seinem Beispiel. Der Doppelt schaute ausdruckslos auf die leer gewordene Mitte der Kajüte. Er trat ein und sah sich langsam um.
Der Koordinator ging zur Leinwand, zog an dem Stab, an dem sie aufgespannt war, und sagte, als sich der Stoff surrend zusammenrollte und die Tafel freigab: „Macht bitte Platz.“ Er nahm ein Stück Kreide in die Hand, zeichnete eine Ellipse und in ihre rechte Hälfte einen kleinen Kreis und drei weitere dazu. Dann trat er an den Riesen heran, der in der Mitte stand, und steckte ihm die Kreide zwischen die knotigen Finger. Der Doppelt sah sie an, blickte auf die Tafel und schritt langsamauf sie zu. Er musste sich mit dem kleinen Torso bücken, der schräg aus dem Kragen herausragte, um mit der verbundenen Hand die Tafel berühren zu können. Alle schauten atemlos zu. Er wählte den von der Mitte aus gesehen dritten Kreis in der Ellipse und klopfte ungeschickt einigemal darauf, dann beschmierte er ihn noch, so dass er fast ganz mit Kreide ausgefüllt war. Der Koordinator nickte. Alle atmeten auf. „Eden“, er zeigte auf den Kreidekreis. „Eden“, wiederholte er.
Der Doppelt betrachtete seinen Mund mit sichtlichem Interesse. Er hustete. „Eden“, sagte der Koordinator besonders deutlich und langsam. Der Doppelt hustete mehrere mal.
„Er spricht nicht“, sagte der Koordinator zu seinen Gefährten. „Das steht fest.“ Sie sahen einander an, ohne zu wissen, was sie tun sollten. Der Doppelt machte eine Bewegung und ließ die Kreide los, die laut auf den Fußboden fiel. Es gab ein Knacken, als würde ein Schloss geöffnet. Der erdfarbene Stoff ging auf wie bei einem Reißverschluß, sie erblickten den breiten, golden glänzenden Gurt an seinem Leib. Das Gurtende rollte sich auf, es raschelte wie eine Metallfolie. Der kleine Torso beugte sich weit vor, als wollte er aus dem Körper springen, krümmte sich in der Mitte und ergriff mit den kleinen Fingern das Ende der Folie. Sie rollte sich zu einem langen Bogen auseinander, den er ihnen hinzuhalten schien. Der Koordinator und der Ingenieur streckten gleichzeitig die Hand danach aus.
Beide zuckten zusammen. Der Ingenieur stieß einen leisen Schrei aus. Der Doppelt schien überrascht zu sein, er hustete mehrmals. Der Schleier vor seinem Gesicht blähte sich. „Eine elektrische Ladung, aber nur schwach“, sagte der Koordinator und berührte zum zweitenmal den Rand der Folie. Der Doppelt ließ sie los. Sie sahen sich die goldglänzende Fläche im Licht genau an. Sie war glatt und leer. Der Koordinator berührte auf gut Glück mit dem Finger wieder eine Stelle und spürte abermals einen leichten elektrischen Schlag. „Was ist das?“ Der Physiker trat näher und strich mit der Hand vorsichtig über die Folie. Elektrische Ladungen schlugen in seine Finger, dass die Sehnen zuckten.
„Graphitpulver her!“ rief er. „Es steht auf dem Schrank!“
Er breitete die Folie auf dem Tisch aus, ohne darauf zu achten, dass die Muskeln seiner Hände unangenehm zitterten. Er beschüttete den Bogen sorgfältig mit dem Pulver, das ihm der Kybernetiker reichte, und blies weg, was zuviel war. Winzige schwarze Punkte blieben auf der goldglänzenden Fläche zurück, scheinbar ohne irgendeine erkennbare Ordnung. „Lacerta!“ rief plötzlich der Koordinator. „Alpha Cygni!“
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