Er stützte sich mit den Händen gegen die Wand und richtete sich auf. Seine Knie waren wie aus Watte. Er wollte den Doktor rufen, doch die Stimme versagte ihm. Plötzlich riss ein weißlicher Schein die Krone der gegenüberliegenden Mauer aus der Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass das wohl der Koordinator war, der ihnen mit einem Magnesiumfeuer die Richtung für den Rückweg anzeigte.
Er bückte sich und suchte die Taschenlampe. Er wusste gar nicht mehr, wann sie ihm aus der Hand geschlagen worden war. Am Boden war die Luft voll scheußlichen faden Gestanks, den er nicht ertrug, er bekam Krämpfe davon. Er stand auf. In der Ferne hörte er einen Schrei — die Stimme eines Menschen. „Hier, Doktor, hier!“ brüllte er. Ein erneuter Schrei antwortete ihm, schon näher. Eine Lichtzunge tauchte zwischen den schwarzen Mauern auf. Der Doktor kam rasch auf ihn zu, schwankend, als sei er betrunken.
„Ach“, sagte er, „du bist hier, gut…“ Er packte den Chemiker am Arm. „Sie haben mich ein Stück mitgerissen, aber es gelang mir, mich in einen Flur zu verdrücken… Hast du die Taschenlampe verloren?“
„Ja.“ Der Doktor hielt sich noch immer an seinem Arm fest. „Nur ein Schwindelgefühl“, erklärte er in ruhigem Ton, aber noch etwas atemlos. „Das ist nichts, das geht gleich vorüber…“
„Was war das?“ flüsterte der Chemiker, als fragte er sich selbst. Der andere antwortete nicht. Sie lauschten beide in die Finsternis. Wieder näherte sich fernes Stampfen, die Dunkelheit war voller Geräusche. Einige Male wehte ein gedämpftes Stöhnen zu ihnen heran. Wieder erhellte ein Leuchten die Mauerkronen, zitterte, strömte mit gelblichem Schimmern abwärts wie ein kurzer Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. „Gehen wir“, sagten beide gleichzeitig.
Ohne diese Signale wären sie wohl kaum vor Tagesanbruch zurückgekehrt. So aber konnten sie, gelenkt von dem Schein, der noch zweimal wie eine Feuersbrunst das Dunkel der steinernen Hohlwege erhellte, die Marschrichtung einhalten. Unterwegs begegneten sie einigen Flüchtenden, die, vom Licht der Taschenlampe erschreckt, rasch das Weite suchten. An einer steilen Treppe stießen sie auf einen bereits erkalteten Leichnam. Sie übersprangen ihn wortlos. Wenige Minuten später fanden sie den kleinen Platz mit dem steinernen Brunnen wieder. Kaum fiel der Schein der Taschenlampe des Doktors darauf, flammten über ihnen die Scheinwerfer mit dreifacher Helligkeit auf. Der Koordinator stand oben an der Treppe, die sie keuchend hinaufliefen. Langsam folgte er ihnen zum Wagen, wo sie sich auf die Trittbretter setzten. Er löschte die Lichter und schritt in der Dunkelheit auf und ab. Er wartete, bis sie sprechen konnten. Als sie ihm alles berichtet hatten, sagte er nur: „Nun ja. Gut, dass das so geendet hat. Hier ist einer, wißt ihr…“ Sie verstanden ihn nicht. Erst als er den seitlichen Scheinwerfer einschaltete und nach hinten drehte, sprangen sie auf: Ein Dutzend Schritte hinter dem Geländewagen lag bewegungslos ein Doppelt. Der Doktor war als erster bei ihm. Das Licht des Scheinwerfers war so stark, dass man auf den Steinplatten selbst die geringste Vertiefung erkennen konnte.
Der Doppelt war nackt, die obere Hälfte seines großen Rumpfes war schräg aufgerichtet. Ein großes blaßblaues Auge starrte sie zwischen den klaffenden Brustmuskeln an. Sie konnten nur den Rand desplatten Gesichtchens sehen, wie durch den Spalt einer angelehnten Tür.
„Wie kam er hierher?“ fragte der Doktor leise. „Er kam von unten, wenige Minuten vor euch. Als ich das Blitzlicht anzündete, floh er, dann kam er wieder.“
„Er kam wieder?“
„Ja, an diese Stelle.“
Sie standen da und wussten nicht, was sie anfangen sollten. Das Geschöpf atmete keuchend, wie nach einem langen Lauf. Der Doktor bückte sich und wollte es streicheln, ihm auf die Schulter klopfen. Es zitterte, auf seiner blassen Haut erschienen große, wässrige Tropfen.
„Er hat Angst vor uns“, sagte der Doktor leise. „Was tun?“
„Wir lassen ihn zurück und fahren ab“, schlug der Chemiker vor. „Es ist Zeit.“
„Wir fahren nirgendshin. Hört zu…“ Der Doktor zögerte.
„Wisst ihr was… Na, setzen wir uns erst einmal.…“ Der Doppelt rührte sich nicht. Wären nicht die gleichmäßigen Bewegungen seiner schildartig geweiteten Brust gewesen, man hätte meinen können, dass er nicht lebte. Dem Beispiel des Doktors folgend, setzten sie sich um den Doppelt herum auf die Steinfläche. Aus der Finsternis drang das ferne Rauschen des Geysirs. Hin und wieder raschelte der Wind in den unsichtbaren Büschen. Undurchdringliche Nacht deckte die Siedlung zu. Dünne Nebelschwaden schwammen durch die Luft. Nach etwa zehn Minuten, als sie schon die Hoffnung aufgeben wollten, lugte der Doppelt durch den Spalt seines inneren Verstecks. Eine unvorsichtige Bewegung des Chemikers genügte, dass sich die Muskeln wieder schlössen, aber diesmal nur für kurze Zeit.
Schließlich, nach etwa einer halben Stunde, richtete sich der Riese auf. Er war ungefähr zwei Meter groß, wäre aber noch größer gewesen, wenn er sich ganz aufgerichtet hätte. Beim Gehen veränderte sich der untere Teil seines unförmigen Körpers. Er sah aus, als könnte er beliebig die Beine einziehen und ausstrecken, doch das waren nur die Muskeln, die bei der Kontraktion stärker hervortraten.
Keiner wusste genau, wie der Doktor es fertiggebracht hatte — er selbst versicherte später, dass er es auch nicht wüßte — , jedenfalls ließ sich der Doppelt, der seinen beweglichen Torso aus dem inneren Nest hervorgeholt hatte, nach längerem Schulterklopfen, verschiedenen ermunternden Gesten und Einflüsterungen von dem Doktor an der dünnen Hand zum Geländewagen führen. Sein kleiner, nach vorn hängender Kopf betrachtete sie mit naivem Erstaunen, als sie in den Lichtkegel des Scheinwerfers traten.
„Und was jetzt?“ fragte der Chemiker. „Hier wirst du dich mit ihm nicht verständigen.“
„Was heißt was jetzt?“ erwiderte der Doktor. „Wir nehmen ihn mit.“
„Bist du noch bei Troste?“
„Wir hätten viel davon“, gab der Koordinator zu bedenken, „aber er wiegt sicherlich eine halbe Tonne!“
„Das macht nichts. Der Wagen ist für mehr berechnet.“
„Du bist gut! Wir sind drei, dazu die Ladung, das sind schon über dreihundert Kilo. Die Torsionsstäbe können brechen.“
„So?“ sagte der Doktor. „Dann eben nicht. Soll er gehen.“ Er stieß den Doppelt auf die Treppe zu. Im Licht des Scheinwerfers, das unmittelbar auf ihn fiel, sah es aus, als sei sein Kopf abgeschnitten und gegen einen anderen, fremden, zu kleinen, außerdem zu tief angesetzten ausgewechselt worden. Das große Geschöpf duckte sich plötzlich, als sackte es in sich zusammen. Seine Haut bedeckte sich im Nu mit opalisierenden Tropfen.„Aber nein, zum Teufel… Ich habe ja nur Spaß gemacht…“, stammelte der Doktor. Die anderen waren über diese Reaktion ebenfalls verblüfft. Nur mit Mühe gelang es dem Doktor, den Doppelt zu beruhigen. Es war schwierig, für den neuen Passagier einen Sitzplatz zu finden. Der Koordinator ließ fast die ganze Luft aus den Reifen, so dass das Chassis beinahe aufsetzte. Im Licht des Handscheinwerfers demontierten sie die beiden hinteren Sitze und befestigten sie am Gepäckgitter.
Ganz oben legten sie noch den Werfer darauf. Der Doppelt sträubte sich jedoch, in den Wagen zu steigen. Der Doktor tätschelte ihn, redete ihm gut zu, schubste ihn, setzte sich selbst hinein und sprang wieder heraus. Unter anderen Umständen wäre das sicherlich ein lustiges Schauspiel geworden. Es ging schon auf Mitternacht, und sie hatten bis zur Rakete noch mehr als hundert Kilometer bei Finsternis und auf schwierigem, zumeist steil ansteigendem Gelände zurückzulegen. Schließlich riss dem Doktor die Geduld. Er ergriff eine Hand des Torsos und rief: „Gebt ihm mal von hinten einen Stoß!“ Der Chemiker zögerte, aber der Koordinator stützte mit dem Arm den Buckel des Doppelt, der gab einen winselnden Laut von sich, schwankte und war mit einem Satz im Wagen. Nun ging alles schnell. Der Koordinator ließ Luft in die Reifen, und der Wagen fuhr gehorsam an trotz des einseitigen Übergewichts. Der Doktor setzte sich vor den neuen Passagier. Der Chemiker nahm die Unbequemlichkeit in Kauf und stellte sich hinter den Koordinator. Sie fuhren in dem dreifachen Strahl der Scheinwerfer durch die Säulengänge, dann die glatten Flächen entlang zur “Keulenallee“.
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