Die Luft wurde immer feuchter. Wind kam auf, er brachte Brandgeruch mit. Der Koordinator drosselte das Tempo und bog zum Fußgestell des nächsten Keulenbaus ab. Sie überquerten eine glatte, an den Seiten da und dort abbröckelnde Platte, die durch schräge, mit einem Kerbensystem versehene Flächen eingefaßt war. Der untere Teil des Gebäudes war eine lange schwarze Linie, die sich verbreiterte, vergrößerte und schließlich in einen Eingang verwandelte. Die Wand darüber wölbte sich zylindrisch. Ihre volle Größe war auf den ersten Blick nicht zu erfassen. Das dunkel gähnende, in eine unsichtbare Tiefe führende Loch wurde von einem pilzförmigen Dach überragt, das faltig überhing, als habe es der Baumeister vergessen und in dieser unvollendeten Form zurückgelassen. Sie fuhren bereits unter das breite Dach. Der Koordinator nahm den Fuß vom Beschleuniger. Finster klaffte der geräumige Eingang. Die Scheinwerfer verloren sich hilflos darin. Links und rechts standen breite, konkav gewölbte Ruinen, die wie Windungen gewaltiger Spiralen hinanstiegen. Der Wagen bremste und rollte vorsichtig in die Rinne, die nach rechts führte. Tiefe Finsternis umgab sie. In den Lichtkegeln tauchten über den Rändern der Rinne für Sekunden lange gefächerte Reihen schräger, teleskopartig sich herausschiebender Masten auf. Mit eipemmal flackerte über ihnen etwas in vielfachem Leuchten. Als sie die Kopfe hoben, erblickten sie über sich einen Reigen weißlich schimmernder Gespenster. Der Koordinator schaltete den breitwinkligen Scheinwerfer neben dem Lenkrad ein und leuchtete mit ihm die Umgebung ab. Der Lichtstrahl glitt über weiße, käfigartige Gebilde wie über Leitersprossen nach oben. Aus der Finsternis gerissen, glühten sie in einem knöchernen Schein auf und verschwanden sofort wieder. Tausende Spiegelbilder stachen ihnen mit blendendem Flackern in die Augen. „Das taugt nichts.“ Die Stimme des Koordinators wurde durch das laute, blecherne Echo des geschlossenen Raumes verzerrt. „Moment, wir haben doch Blitzlichter!“ Er stieg aus. Im Scheinwerferlicht beugte er sich als schwarzer Schatten über den Rand der Rinne. Man hörte ein metallisches Klopfen, dann rief er: „Schaut nicht hierher, schaut nach oben!“ Er sprang zurück. Fast im gleichen Augenblick entzündete sich die Magnesia mit fürchterlichem Zischen, ein gespenstisch flackernder Schein verdrängte die Dunkelheit im Nu nach den Seiten. Die fünf Meter breite Rinne, in der sie standen, endete etwas höher in einem Bogen, der in einen durchsichtigen Gang oder vielmehr Schacht führte. Sie stieg steil an und drang als silberglänzendes Rohr in das entsetzliche glühende Dickicht der Blasen, die über ihnen hingen und wie das Zellengewimmel eines gläsernen Bienenstocks den ganzen kuppeiförmigen Raum ausfüllten.
Der Widerschein des Blitzlichts vervielfachte sich in den dünnen, durchsichtigen Wänden. Dahinter, im Innern der gläsernen Zellen, die eine gewölbte, gleichsam aufgeblähte Hülle aufwiesen, war eine ganze Galerie mißgestalteter Skelette zu sehen — schneeweiße, fast funkelnde, auf schaufeiförmigenFußgestellen ruhende Knochengerüste mit einem Fächer von Rippen, die strahlenförmig von einer oval verlängerten knöchernen Scheibe ausgingen. Jeder dieser vorn offenen Brustkörbe barg ein dünnes, ein wenig nach vorn geneigtes Skelett, das von einem Vogel oder einem Äffchen herrühren mochte und einen zahnlosen, kugelförmigen Schädel hatte. Ungezählte Spaliere schimmerten wie in gläserne Eier eingeschlossen und zogen sich spiralenförmig durch viele Etagen, immer weiter und immer höher. Tausende blasenartiger Wände vervielfachten und spalteten das Licht, so dass man die wirklichen Formen von ihren Spiegelbildern nicht zu unterscheiden vermochte. Wie in Stein gehauen saßen sie mehrere Sekunden lang da, dann erloschen die Magnesiumflammen. Von dem letzten vergilbten Blitz zerrissen, in dem die Bäuche der blasigen Gläser noch einmal auffunkelten, brach die Finsternis herein. Etwa nach einer Minute merkten sie, dass die Scheinwerfer des Wagens noch brannten. Ihre Lichtkegel ruhten auf den Böden der gläsernen Blasen.
Der Koordinator fuhr dicht an den Eingang des Schachtes heran, in den die Rinne mit einer kegelförmigen Tülle mündete. Die Bremsen quietschten. Der Wagen drehte sich ein wenig, um quer zum Gefalle zu stehen, damit er nicht hinunterrollte, falls sich die Bremsen lockerten. Sie stiegen aus.
Der Tunnel führte mit seinem durchsichtigen Rohr steil hinauf, aber unter Zuhilfenahme der Arme würde die Schräge wahrscheinlich zu bewältigen sein. Sie lösten den Scheinwerfer aus der Kugelfassung und kletterten in den. Schacht, die Kabelschnur hinter sich herziehend. Wie sie nach ungefähr vierzig Metern feststellten, führte der Schacht durch das gesamte Innere der Kuppel. Die durchsichtigen Zellen lagen zu beiden Seiten dicht über dem konkav gewölbten Boden, auf dem sie weit vorgebeugt gehen mussten, was sehr ermüdend war. Bald jedoch ließ die Steigung nach. Jede Blase war dort, wo sie an die Wand der nächsten grenzte, abgeflacht und ragte mit ihrem rüsselförmigen Ende in den Tunnel. Das Ende war mit einem runden, genau in die Öffnung passenden linsenförmigen Deckel aus getrübtem Glas verschlossen. Sie gingen weiter. In dem beweglichen Licht zog der knöcherne Reigen vorüber. Die Gerippe hatten unterschiedliche Gestalt. Das erkannten sie jedoch erst nach geraumer Zeit, nachdem sie eine lange Reihe von Gerippen abgeschritten hatten. Um die Vielfalt der Formen zu erkennen, musste man die Exemplare aus weit voneinander entfernten Käfigen vergleichen.
Je höher sie kamen, desto deutlicher war zu sehen, dass sich die Brustkörbe der Skelette schlossen.
Die Fußgestelle wurden kleiner, als wären sie von der breiten Knochenscheibe verschlungen. Dafür hatten die Torsos größere Köpfe, die Schädel schwollen an den Seiten eigenartig an, die Schläfen rundeten sich, so dass manche gewissermaßen drei miteinander verschmolzene Schädelwölbungen besaßen, die große mittlere und zwei seitliche oberhalb der Ohröffnungen. Die Männer hatten, hintereinander gehend, anderthalb Etagen der Spirale durchmessen, als ein plötzlicher Ruck sie innehalten ließ. Das Kabel, das den Scheinwerfer mit dem Geländewagen verband, war abgespult. Der Doktor wollte mit seiner Taschenlampe weitergehen, aber der Koordinator war dagegen. Vom Haupttunnel zweigten alle paar Meter andere ab, so dass man sich in diesem gleichsam aus Glas geblasenen Labyrinth leicht verlaufen konnte. Sie kehrten um. Unterwegs versuchten sie, einen der Deckel zu öffnen. Sie versuchten es bei einem zweiten, bei einem dritten, doch alle waren mit den Rändern der durchsichtigen Verschalung wie verschmolzen. Der Boden in den Blasen war mit einer Schicht feinen, weißlichen Staubes bedeckt, in der sich durch die unterschiedliche Dichte sonderbare Figuren abzeichneten. Der Doktor, der als letzter ging, blieb alle paar Schritte vor den gewölbten Wänden stehen. Er kam nicht dahinter, wie das Skelett aufgehängt war, worauf es sich stützte. Er wollte eine der „Trauben“ in einem Seitengang umgehen, aber der Koordinator drängte zur Eile. So musste er auf eine Untersuchung verzichten, um so mehr, als der Chemiker, der den Scheinwerfer trug, sich entfernt hatte und ringsum Dunkelheit herrschte, voll von schimmernden Wänden.Sie beeilten sich mit dem Abstieg. Endlich konnten sie erleichtert Luft schöpfen, die dort, wo der Geländewagen stand, viel frischer war als die abgestandene und überhitzte im Glastunnel. „Kehren wir um?“ fragte der Chemiker unentschlossen. „Noch nicht“, erwiderte der Koordinator. Er wendete den Wagen in der Rinne, die Scheinwerfer beschrieben einen großen Bogen durch die blitzende Dunkelheit. Sie fuhren die gewundene Schräge hinunter und näherten sich dem Eingang, der, vom letzten Abendlicht ausgefüllt, wie ein Bildschirm wirkte. Draußen beschloss der Koordinator, um das zylindrische Bauwerk herumzufahren. Das Fundament hatte einen kegelförmigen, gewölbten Kragen aus gegossenem Metall. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte umkreist, als im Scheinwerferlicht ineinander verkeilte längliche Blöcke mit rasierklingenscharfen Rändern auftauchten und ihnen den Weg versperrten.
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