„Ja.“
„Der scheint anders zu sein. Die Finger fehlen.“
„Vielleicht ein Invalide“, murmelte der Koordinator. Es klang nicht sehr überzeugend. Sie hielten noch einmal, an der letzten Grube vor der schiefen Ebene. Sie wirkte noch ganz frisch. Der Lehm bröckelte langsam von den Wänden, zitternd, als hätte sich der gewaltige Spaten erst vor einer Weile aus der viereckigen Gruft entfernt. „Großer Gott“, krächzte der Chemiker und sprang, blaß wie der Tod, von dem Lehmhaufen herunter. Beinahe wäre er gestürzt. Der Doktor sah den Koordinator fragend an. „Wirst du mir beim Herausklettern helfen?“
„Gut. Was hast du vor?“
Der Doktor kniete nieder, stützte sich auf den Rand der Gruft und ließ sich vorsichtig hinunter, bemüht, den großen Rumpf nicht mit den Füßen zu berühren. Er beugte sich über ihn und hielt instinktiv den Atem an. Von oben hatte es ausgesehen, als sei unterhalb der Brustmuskeln, dicht unterhalb der Stelle, wo sich der fleischige Torso aus den beiden Hautfalten hervorschob, ein Metallstab in die kraftlose Masse gestoßen worden. Aus der Nähe stellte er fest, dass er sich geirrt hatte. Ein graugrüner, dünnwandiger Nabelfortsatz ragte unter den Hautfalten aus dem Körper. Das Metallröhrchen, dessen langes, gebogenes Ende der Buckel des Toten verbarg, war damit verbunden.
Der Doktor berührte es zuerst behutsam, dann zog er daran. Er beugte sich noch weiter vor und entdeckte, dass die Metallmündung, die durch die darübergezogene Haut hindurchschimmerte, mit ihr wie durch eine Naht von kleinen, nebeneinander glänzenden Perlen zusammengehalten wurde. Eine Weile überlegte er, ob er nicht das Röhrchen mit dem Fortsatz abschneiden sollte. Langsam griff er nach dem Messer in der Tasche, immer noch unentschlossen, aber als er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf das flache Gesichtchen, das sich in unnatürlicher Haltung an die Grubenwand lehnte, und er stutzte. Dort, wo bei dem Geschöpf, das er in der Rakete seziert hatte, die Nase saß, hatte dieses ein breit geöffnetes, blaues Auge, das ihn mit stummer Gewalt anzuschauen schien. Er hob den Blick.
„Was gibt es da?“ hörte er den Koordinator fragen, sah seinen Kopf, schwarz vor dem Hintergrund der Wolken, und begriff, weshalb sie das von oben nicht bemerkt hatten: Das Köpfchen war an die Wand gelehnt, und man musste sich dort befinden, wo er stand, um es gerade anzuschauen.
„Hilf mir heraus“, sagte er und stellte sich auf die Zehenspitzen. Er ergriff die hingehaltene Hand des Koordinators, der ihn am Kragen seiner Kombination packte und mit Hilfe des Chemikers hochzog.
Er sah die beiden aus zusammengekniffenen Augen an. „Wir verstehen nichts davon“, sagte er. „Habt ihr gehört? Nichts. Gar nichts!“ Leiser fügte er hinzu: „Ich konnte mir bisher überhaupt keine Situation vorstellen, in der ein Mensch gar nichts, aber auch wirklich gar nichts begreift.“
„Was hast du gefunden?“ fragte der Chemiker. „Sie unterscheiden sich tatsächlich voneinander“, sagte der Doktor, während sie zum Geländewagen gingen. „Die einen haben Finger, die anderen keine. Die einen haben eine Nase, dafür kein Auge, andere haben ein Auge und wiederum keine Nase. Die einen sind größer und dunkler, die anderen sind weißer und haben einen etwas kürzeren Rumpf. Die einen…“
„Was macht das schon“, unterbrach ihn der Chemiker ungeduldig. „Auch die Menschen haben verschiedene Rassen, verschiedene Züge, eine unterschiedliche Hautfarbe. Und was gibt es hier, was du nicht begreifen kannst? Hier geht es um etwas anderes, nämlich darum, wer diese scheußlichen Schlächtereien anstellt und zu welchem Zweck.“
„Ich bin mir gar nicht so sicher, dass hier gemordet wurde“, erwiderte der Doktor leise, den Kopf gesenkt. Der Chemiker betrachtete ihn verblüfft. „Wassoll das… Was hast du?“
„Ich weiß nichts“, sagte der Doktor mit einiger Überwindung. Mechanisch wischte er sich mit dem Taschentuch den Lehm von den Händen. „Eins weiß ich aber bestimmt.“ Er richtete sich plötzlich auf. „Erklären kann ich es nicht, aber diese Unterschiede sehen mir nicht wie Rassenunterschiede innerhalb einer Gattung aus. Augen und Nase, der Geruchs- und der Gesichtssinn sind dafür zu wichtig.“
„Es gibt auf der Erde Ameisen, die sich noch mehr spezialisiert haben. Die einen haben Augen, die anderen keine, die einen können fliegen, die anderen können nur laufen, die einen sind Näherinnen, die anderen sind Krieger. Wünschst du, dass ich dir Biologieunterricht erteile?“ Der Doktor zuckte mit den Schultern. „Für alles, was geschieht, hast du ein fertiges Schema, das du von der Erde mitgebracht hast. Wenn eine Einzelheit, eine Tatsache da nicht hineinpaßt, verwirfst du sie einfach. Ich kann dir das in diesem Augenblick nicht beweisen, aber ich weiß einfach, dass das weder mit Rassenmerkmalen noch mit spezialisierter Unterscheidung der Art etwas zu tun hat. Könnt ihr euch an das Bruchstück, an das Rohrende, an das Ende der Nadel erinnern, das ich bei der Sektion fand? Natürlich hatten wir alle geglaubt — auch ich — , dass man an jenem Geschöpf, was weiß ich, einen Mord begangen habe oder begehen wollte. Dabei ist das hier etwas ganz anderes. Der da hat einen Fortsatz, einen Sauger oder etwas in dieser Art, und das Röhrchen ist einfach dort eingesetzt, hineingeführt. Wie man einem Menschen bei der Tracheotomie ein Röhrchen in die Luftröhre einführt. Natürlich hat das nichts mit Tracheotomie zu tun, er hat ja an dieser Stelle keine Luftröhre. Ich weiß nicht, was das ist, und ich begreife nichts, aber das eine wenigstens weiß ich!“ Er bestieg den Geländewagen und fragte den Koordinator, der um den Wagen herumging, um auf seinen Platz zu gelangen: „Was meinst du dazu?“
„Dass wir weiterfahren müssen“, antwortete der und ergriff das Lenkrad.
Die Dämmerung brach herein. Sie umfuhren die schräge Fläche in weitem Bogen. Sie war nicht, wie sie angenommen hatten, ein architektonisches Gebilde, sondern der am weitesten vorgedrungene, zur Ebene hin abgeflachte Ausläufer eines Magmastromes, dessen Größe sie erst jetzt erfassten. Sie stieg vom oberen Talgeschoß den Hang hinunter, zu Dutzenden zerklüfteter Brüche und Kaskaden erstarrt, und war in ihrem unteren Teil voller Buckel, wie metallische Schlacke. Nur oben, wo der Hang erheblich steiler war, ragten nackte Felsrippen aus der totenstarren Sintflut. Auf der anderen Seite wurde der mehrere hundert Meter lange Paß mit seinem ausgetrockneten, von zickzackförmigen Rissen durchzogenen Lehmboden durch den Wall einer in den Wolken verschwindenden Bergkette verbarrikadiert. Sie war, soweit man das durch die Wolkenfenster sehen konnte, mit einem schwärzlichen Floragürtel bedeckt. Der geronnene Strom, sicherlich das Überbleibsel einer mächtigen vulkanischen Eruption, wirkte mit den leuchtenden Stirnen seiner starren Wellen wie ein großer Eisberg in dem bleiernen Abendlicht.
Das Tal war viel breiter, als es, von oben gesehen, den Anschein hatte. Hinter dem Gebirgspaß öffnete sich ein Seitenarm, der flach an den brotlaibförmigen Magmavorsprüngen entlangführte. Rechts stieg der nahezu kahle Boden in terrassenförmigen Schrägen bergan. Einzelne graue Wolkenfetzen trieben dort vorüber. Noch höher, genau vor ihnen, ließ sich alle paar Sekunden aus der Tiefe des oberen Talkessels der Geysir vernehmen, den augenblicklich die Felsstufe verdeckte. Dann erfüllte jedes Mal ein lang anhaltendes, dumpfes Rauschen das Tal. Die Umgebung verlor allmählich ihre Farben. Die Formen verschwammen, als würden sie von Wasser überflutet. In der Ferne zeichneten sich die rostbraunen Falten von Mauern oder Felshängen ab. Über ihrem Gewirr lag ein zarter Schimmer, wie von den Strahlen der untergehenden Sonne, obwohl die Sonne hinter den Wolken versteckt war. Zubeiden Seiten des sich immer mehr erweiternden Gebirgspasses standen dunkle, keulenartige Ungetüme in einer regelmäßigen Doppelreihe. Sie ähnelten übermäßig hohen, schmalen Ballons. Als der Wagen unter den ersten von ihnen hindurchfuhr, verstärkten die Schatten der großen Gebilde die Dämmerung. Der Koordinator schaltete die Scheinwerfer ein, sofort wurde es außerhalb der Lichtkegel dunkel, als sei plötzlich die Nacht hereingebrochen. Die Räder rollten über Dünen aus erstarrter Schlacke. Wie Glas klirrten die Schlackestückchen. Die Lichtkegel wanderten durch das Dunkel. Wenn sie die Wände der Behälter oder Ballons trafen, entflammten diese in allen Regenbogenfarben. Die letzten Spuren des Lehmbodens waren verschwunden. Sie fuhren auf einer sanft gewellten Fläche, die erstarrter Lava glich. In den Senken standen dunkle, flache Wasserpfützen, die klatschend unter den Rädern zerstoben. Vor der Wolkenwand war eine schwarze, einem Säulengang ähnelnde Konstruktion zu erkennen, zart wie ein Spinnwebennetz. Sie verband zwei etwa hundert Meter voneinander entfernte keulenförmige Bauten. Das Scheinwerferlicht erfasste einige auf der Seite liegende Maschinen. In ihren gewölbten Böden waren lauter Öffnungen. Darin waren Zacken zu sehen, von denen verbrannte Fetzen herabhingen. Der Wagen hielt. Sie stellten fest, dass das Metall von Rost zerfressen war, die Maschinen mussten also schon lange da liegen.
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