Die Zubereitung der Antriebsmischung währte sechs Stunden, doch dafür wurde nur ein Mann benötigt, der die Arbeit der Atomsäule überwachte. Der Ingenieur und der Koordinator krochen unterdessen auf allen vieren durch die Tunnel an Deck, verlegten und kontrollierten Leitungen auf einer Strecke von achtzig Metern zwischen dem Steuerraum an der Spitze und den Verteileraggregaten des Maschinenraums. Der Chemiker hatte sich draußen im Schutz der Rakete eine Art Höllenküche eingerichtet und siedete in hitzebeständigen Gefäßen einen Brei, der auf dem offenen Feuer wie ein Sumpfvulkan brodelte. Er zerließ, schmolz und mischte die durchgesiebten Stückchen der Plaststoffe, die er kübelweise aus dem Schiff getragen hatte. Nahebei warteten schon die Matrizen. Er wollte die zerschlagenen Schalttafelplatten des Steuerraums gießen. Mit ihm war nicht gut reden, er war wütend, denn die ersten Abgüsse hatten sich als brüchig erwiesen. Der Koordinator, der Chemiker und der Doktor sollten um fünf Uhr, drei Stunden vor Einbruch der Dämmerung, einen Ausflug in Richtung Süden unternehmen. Wie gewöhnlich ließ sich der Termin nicht einhalten, erst gegen sechs war alles fertig und gepackt. Auf dem vierten Sitz fand ein Werfer Platz. Sie nahmen nur wenig Gepäck mit, dafür befestigten sie am Gepäckgitter einen Hundertliterkanister für Wasser. Ein größerer ließ sich nicht durch den Tunnel tragen. Der Ingenieur wappnete sich nach dem Mittagessen mit einem großen Fernglas und kroch vorsichtig auf den Rumpf der schräg aus der Erde ragenden Rakete. Sie hatte sich zwar unter einem sehr kleinen Winkel in den Boden gebohrt, dank ihrer Länge erhob sich aber das Ende des Rumpfes mit den Ausstoßtüllen mehr als zwei Stockwerke hoch über die Ebene.
Als er einen recht guten Sitzplatz zwischen der kegelförmig erweiterten Öffnung der oberen Tülle und der Einbuchtung des Hauptrumpfes gefunden hatte, blickte er den riesigen sonnenerhellten Rumpf entlang nach unten: Vor dem schwarzen Fleck des Tunnelausgangs standen die Männer, kaum größerals Käfer. Der Ingenieur hielt das Fernglas an die Augen und drückte die beiden Muscheln fest an die Jochbögen. Die Vergrößerung war beträchtlich, aber das Bild zitterte. Diese Haltung strengte die Arme an, er musste die Ellenbogen auf die Knie stützen, und das war nicht leicht. Nichts einfacher, als hier herunterzufallen, dachte er. Die harte Keramitoberfläche war so glatt, dass sie geradezu schlüpfrig wirkte, als wäre sie mit einer dünnen Fettschicht versehen. Er stemmte sich mit der Profilgummisohle seines Schuhs gegen die abstehende Tülle und begann mit dem Fernglas systematisch den Horizont abzusuchen. Die Luft zitterte vor Hitze. Er empfand fast einen physischen Druck auf dem Gesicht, als er nach Süden in die Sonne schaute, übrigens ohne viel Hoffnung, dort etwas zu entdecken. Er war froh, dass der Doktor den Plan des Koordinators, der von allen gebilligt worden war, angenommen hatte. Er selbst hatte ihn dem Doktor vorgestellt. Der wollte nicht einmal etwas von Entschuldigung hören. Er machte einen Scherz daraus. Nur das Ende des Gesprächs verwunderte ihn, es hatte ihn sogar überrascht. Er war mit dem Doktor allein, und es schien, als hätten sie sich nichts weiter zu sagen, da berührte jener plötzlich wie zerstreut seine Brust.
„Ich wollte dich um etwas fragen… ach so. Weißt du, wie man die Rakete senkrecht aufstellen kann, wenn wir sie instand gesetzt haben?“
„Zuerst werden wir die Lastautomaten und den Bagger reparieren müssen“, begann er.
„Nein“, unterbrach ihn der Doktor, „in den technischen Einzelheiten kenne ich mich nicht aus, das weißt du doch. Sag mir nur, ob du — du selbst — es weißt, wie das zu machen geht?“
„Die zehntausend Tonnen erschrecken dich, nicht wahr? Archimedes war bereit, die Erde zu bewegen, wenn er einen Punkt der Anlehnung fände. Wir werden die Rakete unterhöhlen und…“
„Verzeihung — nicht das. Nicht, ob du es theoretisch weißt, ob du die Methoden aus den Nachschlagewerken kennst, sondern ob du die Gewißheit hast, dass du es wirst tun können — warte! — , und ob du mir dein Wort geben kannst, dass du, wenn du ja sagst, auch das sagst, was du denkst.“ Hier hatte der Ingenieur gezögert. Es gab da ein paar ungeklärte Punkte in dem noch recht nebulösen Arbeitsprogramm, aber er sagte sich immer, wenn er die Nase in diese äußerst schwierige Phase steckte, müsste es schon irgendwie zu schaffen sein. Bevor er etwas erwidern konnte, hatte der Doktor seine Hand ergriffen und sie gedrückt. „Nein, nichts mehr, Henryk. Weißt du, weshalb du mich so angeschrien hast? Nicht doch, ich halte es dir ja nicht vor. Du bist nämlich genauso ein Schafskopf wie ich, du willst es nur nicht zugeben.“ Lächelnd, so dass er plötzlich seinem Foto aus der Studienzeit ähnelte, das der Ingenieur bei ihm in der Schublade gesehen hatte, fügte er hinzu: „Credo, quia absurdum. Hast du Latein gelernt?“
„Ja, aber ich habe schon alles vergessen.“ Der Doktor blinzelte, ließ seine Hand los und ging. Der Ingenieur blieb zurück. Er fühlte, wie der Druck der Finger in seiner Hand allmählich schwand, und dachte, dass der Doktor etwas ganz anderes hatte sagen wollen, und wenn er überlegte, würde er erraten, worum es ihm in Wirklichkeit gegangen war. Statt sich jedoch zu konzentrieren, spürte er aus irgendeinem Grunde Verzweiflung und Angst. Der Koordinator hatte ihn dann in den Maschinenraum gerufen, wo zum Glück so viel Arbeit wartete, dass er keine Sekunde Zeit zum Nachdenken fand.
Jetzt erinnerte er sich an diese Szene und an dieses Gefühl, aber so, als ob ihm jemand das erzählte. Er war keinen Schritt weitergekommen. Das Fernglas zeigte die Ebene. Sie war bis hin an den himmelblauen Horizont in sanfte Buckel gefaltet und von Schattenstreifen gefurcht. Womit er am Abend zuvor gerechnet, was er aber für sich behalten hatte, nämlich, dass die anderen sie finden und es am Morgen vielleicht zum Kampf kommen würde, war nicht eingetreten. Schon oft hatte er sich vorgenommen, nichts auf solche Ahnungen zu geben, die ihn so häufig befielen und an die er mit Zuversicht glaubte. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Durch die doppelten Gläser bemerkte er Ansammlungen jener schlanken grauen Kelche. Sie waren zeitweilig in Staub gehüllt, den der Wind aufwirbelte. Dort musste eine ziemlich steife Brise wehen, obwohl er auf seinem Beobachtungspunkt nichts davon spürte. Am Horizont stieg das Gelände allmählich an, und noch weiter hinten — aber hier war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht einfach bloß Wolken sah, diein zwölf bis fünfzehn Kilometer Entfernung über die Landschaft hinwegzogen — flimmerten längliche Verdichtungen von einer dunkleren Färbung. Von Zeit zu Zeit stieg dort etwas hoch und löste sich auf oder verschwand. Die Sicht war so schlecht, dass er nichts Genaues ausmachen konnte. Doch zeichnete sich in jener Erscheinung eine unbegreifliche Regelmäßigkeit ab. Er wusste nicht, was er sah, aber er konnte auf die Häufigkeit der Veränderung achten, und das tat er. Den Blick auf den Sekundenzeiger, zählte er zwischen dem ersten und zweiten Hervortreten sechsundachtzig Sekunden.
Er steckte das Fernglas ins Futteral und begann den Abstieg, die Sohlen immer mit der ganzen Fläche auf die Keramitplatten aufsetzend. Da hörte er hinter sich Schritte. Er drehte sich so ungestüm um, dass er das Gleichgewicht verlor, die Hände ausstreckte, schwankte und der Länge nach hinschlug.
Bevor er den Kopf hob, vernahm er ganz deutlich den Widerhall des eigenen Sturzes. Vorsichtig richtete er sich etwas auf. Etwa neun Meter entfernt, am Rand der oberen Steuerungsdüse, saß etwas, klein wie eine Katze, und beobachtete ihn aufmerksam. Das Tierchen — der Eindruck, dass es ein Tier war, drängte sich ihm mit Selbstverständlichkeit auf — hatte ein blaßgraues, aufgeblähtes Bäuchlein, und da es wie ein Eichhörnchen Männchen machte, konnte er seine Pfoten auf dem Bauch sehen, alle vier, mit den possierlich in der Mitte zusammenlaufenden Krallen. Es umfaßte den Rand der Keramittülle mit etwas gelblich Glänzendem, das wie erstarrtes Gelee aussah und unten aus seinem Leib ragte. Der graue runde Katzenkopf hatte weder Augen noch Schnauze, war aber überall mit schwarzen blitzenden Glasperlen besetzt, wie ein Nadelkissen mit vielen Stecknadelköpfen. Der Ingenieur machte drei Schritte auf das Tier zu. Er war so verblüfft, dass er fast vergaß, wo er stand: Er hörte ein dreifaches Echo, wie vom Widerhall seiner Schritte. Er begriff, dass das Tierchen Laute nachahmen konnte. Langsam trat er noch näher und überlegte gerade, ob er nicht das Hemd ausziehen sollte, um es als Fangnetz zu benutzen. Auf einmal verwandelte sich das Tierchen.
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