»Und wer, meinst du, waren all diese Männer?«
Der junge Mensch schaute nach rechts und links, als fühle er sich ein bißchen unsicher.
»Das — oh, das — ja! Das, meinen wir, wie du selbst, Ish, sehr wohl weißt — das waren die ›Alten‹, die vor unseren ›Alten‹ da waren!«
Als kein Blitz und Donnerschlag erfolgte, und als der junge Mensch merkte, daß Ish nicht zornig wurde, fuhr er fort:
»Ja, so muß es sein — wie du, Ish, sehr wohl weißt. Diese Männer, und die Falken, und der Bulle! Vielleicht stammt die Frau, der die Flügel aus dem Kopf wachsen, aus der Ehe eines Falken und einer Frau. Aber wie dem auch sei: sie scheinen es uns nicht zu verübeln, daß wir ihre Bilder nehmen und Pfeilspitzen daraus hämmern. Ich habe mir darüber Gedanken gemacht. Vielleicht sind sie zu groß, um sich um dergleichen kleine Dinge zu kümmern, oder vielleicht haben sie ihr Werk vor langer Zeit vollbracht und sind jetzt alt und schwach.«
Er unterbrach sich, aber Ish merkte, daß er mit sich zufrieden war und gern sprach, und daß er sich überlegte, was er jetzt noch sagen könne. Er wenigstens hatte Phantasie.
»Ja«, fuhr der junge Mensch fort, »ich denke etwas ganz Bestimmtes. Unsere ›Alten‹ — das waren die Amerikaner — haben die Häuser und die Brücken und die kleinen runden Dinger gemacht, aus denen wir uns die Pfeilspitzen hämmern. Aber die andern — die ›Alten‹ der ›Alten‹ — die haben vielleicht die Berge und die Sonne und auch die Amerikaner geschaffen.«
Obwohl es billig war, den jungen Menschen hinters Licht zu führen, konnte Ish nicht umhin, etwas Doppeldeutiges zu sagen.
»Ja«, sagte er, »ich habe davon sagen hören, jene ›Alten‹ hätten die Amerikaner gezeugt — aber ich bezweifle, daß sie auch die Berge und die Sonne gemacht haben.«
Der junge Mensch hatte den Sinn dieser Worte schwerlich erfaßt, wohl aber das Ironische des Tonfalls verspürt, und so schwieg er.
»Sprich nur weiter«, fuhr Ish fort. »Erzähl mir mehr über die Pfeilspitzen. An deiner Kosmogonie bin ich nicht interessiert.« Er bediente sich des Wortes »Kosmogonie« in wohlgelaunter Bosheit, obwohl er wußte, daß der andere es keinesfalls verstand. Aber es machte ihm wohl Eindruck, weil es ein langes Wort war und fremdartig klang.
»Ja, die Pfeilspitzen«, sagte der junge Mensch, zögerte einen Augenblick und gewann dann sein Selbstvertrauen wieder. »Wir benutzen die roten und die weißen. Die roten sind gut, um Rinder und Löwen zu schießen. Die weißen sind für Rehe und andere Tiere.«
»Warum das?« fragte Ish heftig; denn er spürte, wie sein aus den Alten Zeiten stammender Rationalismus sich gegen dergleichen Magie und Hokuspokus auflehnte. Die Frage schien indessen den jungen Menschen lediglich zu überraschen und zu verwirren.
»Warum?« fragte er. »Warum? Das kann doch niemand wissen! Bis auf dich, Ish! Das mit den roten und weißen Pfeilspitzen — das ist nun einmal so. Es ist wie …« Er zögerte; das Sonnenlicht schien seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ja, es ist wie mit der Sonne, die sich um die Erde dreht; aber warum sie das tut, das weiß natürlich niemand, und es fragt auch niemand danach. Warum sollte es da ein ›Warum?‹ geben?«
Nachdem er diese letzten Worte gesprochen hatte, schien der junge Mensch mit sich selbst außerordentlich zufrieden zu sein, als habe er einen tiefgründigen philosophischen Weisheitssatz aufgestellt; dabei hatte er ganz naiv gesprochen. Aber wenn Ish sich die Sache richtig überlegte, war er dessen nicht völlig sicher. Vielleicht lag in dieser Naivität, in dieser Einfachheit und Schlichtheit Tiefe. Gab es denn überhaupt eine Antwort auf das »Warum?« Existieren die Dinge nicht einzig in ihrer Gegenwart?
Ja, Ish war überzeugt davon, daß irgendwie hinter jedem Beweis ein Trugschluß lauerte. Die Begriffe Ursache und Wirkung waren für das menschliche Niveau lebensnotwendig, und diese Sache mit den verschiedenfarbenen Pfeilspitzen war dafür ein Beweis, nicht jedoch das Gegenteil. Nur war das Kausalprinzip hier unzulänglich und irrational. Der junge Mensch behauptete etwas Absurdes, nämlich daß Rinder und Löwen besser mit den aus kupfernen Pennystücken gehämmerten Pfeilspitzen, während Rehe mit den aus silbernen Zehncent- oder Vierteldollarstücken gehämmerten besser getötet werden könnten. Der Unterschied der Härte oder Schärfe fiel dabei augenscheinlich nicht ins Gewicht. Für diese primitiven Gemüter war die bedeutungslose Farbe (und eben darauf beruhte der Aberglaube!) zum entscheidenden Faktor geworden.
Tief in seinem Innern fühlte Ish seinen alten Haß gegen ungenaues Denken aufwallen. Obwohl er ein alter Mann war, konnte und mußte er hier eingreifen.
»Nein!« sagte er so laut und heftig, daß der junge Mensch zusammenzuckte. »Nein! Das ist nicht richtig! Das mit den weißen und den roten Pfeilspitzen! Die einen sind so gut wie …«
Dann wurde seine Stimme langsam schleppender. Nein, dachte er, dies war der falsche Weg. Er hörte eine volle tiefe Altstimme sagen: »Gib nach! Entspanne dich!« Vielleicht hätte er diesen jungen Menschen namens Jack überzeugen können, der zweifellos ein bemerkenswert intelligenter und phantasiebegabter Junge war, möglicherweise etwas Ähnliches wie der Kleine, der Joey geheißen hatte. Aber was käme dabei heraus? Höchstens, daß der junge Mensch verwirrt wurde und sich zwischen all den andern unglücklich fühlte. Und was war denn auch im Grunde der Unterschied? Schließlich waren kupferne Pfeilspitzen in ihrer Wirkung gegen Löwen nicht schwächer, und wenn die Bogenschützen eben glaubten, sie seien sogar stärker, so flößte dieser Gedanke ihnen Mut ein und lieh ihnen eine sichere Hand.
So äußerte Ish sich nicht weiter über diese Angelegenheit, sondern lächelte dem jungen Menschen ermutigend zu und blickte dann wieder auf den Pfeil.
Es kam ihm ein anderer Gedanke, und er fragte:
»Könnt ihr denn immer eine genügende Menge von den kleinen runden Dingern auftreiben?«
Der junge Mensch lachte fröhlich auf, als sei das eine absonderliche Frage.
»O ja!« sagte er. »Es liegen so viele herum, daß wir damit nicht fertig würden, auch wenn wir samt und sonders nichts anderes täten als Pfeilspitzen hämmern.«
Ish überlegte. Ja, das stimmte wohl. Selbst wenn der »Stamm« jetzt aus hundert Menschen bestand, mußten für sie Tausende und aber Tausende von Münzen in Ladenkassen und Geldschränken bereitliegen, und zwar allein schon in dieser Gegend der Stadt. Und wenn diese Münzen aufgebraucht waren, so gab es Tausende von Kilometern kupfernen Telefondrahtes. Als er den ersten Bogen gefertigt, so erinnerte er sich, da hatte er sich vorgestellt, daß der »Stamm« zu steinernen Pfeilspitzen zurückkehren würde. Statt dessen hatten sie einen Abkürzungsweg eingeschlagen und bedienten sich bereits des Metalles. So waren denn vielleicht der »Stamm« und damit seine eigenen Abkömmlinge über den Tiefpunkt hinaus: sie vergaßen nicht länger das Alte, sondern lernten schon wieder Neues; sie sanken nicht länger hinab in den Zustand von Wilden, sondern hatten bereits einen gewissen stabilen Hochstand wiedergewonnen, und vielleicht gewannen sie gar neue Sicherheit. Er hatte dabei geholfen, indem er ihnen das Verfertigen von Bogen zeigte, und das erfüllte ihn mit großer Genugtuung.
Als Ish den Pfeil zur Genüge betrachtet hatte, gab er ihn zurück.
»Es scheint ein sehr guter Pfeil zu sein«, sagte er, obwohl er im Grunde nicht allzuviel von Pfeilen verstand.
Nichtsdestoweniger lächelte der junge Mensch beglückt über dieses Lob, und Ish bemerkte, daß er sein Zeichen darauf machte, ehe er ihn wieder in den Köcher steckte, als wünsche er, nach dem, was geschehen war, ihn von seinen anderen Pfeilen unterscheiden zu können. Als er dann den jungen Menschen auch weiter anschaute, empfand Ish plötzlich eine große Liebe zu ihm; seit langer Zeit, seit er als ein Greis am Hügelhang gesessen hatte, war er nicht so tief bewegt gewesen. Dieser Jack, der zu den »Ersten« gehörte, mußte Ishs Urenkel in der männlichen Abfolge sein, und also war er auch Ems Urenkel. So schwoll ihm denn das Herz über, und er stellte eine seltsame Frage:
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