Im nächsten Jahre wurde Ish mehr denn je gewahr, daß Em nicht mehr mit königlicher Anmut einherschritt; als er sie ansah, erblickte er seltsame Linien in ihrem Gesicht, nicht die Linien des Alters, sondern solche des Schmerzes. Er verspürte in seinem Innern Frösteln und Furcht, und er wurde sich bewußt, daß nun auch dieses zu Ende ging.
Manchmal in den schlimmen, nun folgenden Monaten dachte er: »Es ist vielleicht nur eine Blinddarmreizung. Der Schmerz sitzt an jener Stelle. Warum kann ich nicht operieren? Ich kann in den Büchern nachschlagen. Ich könnte nachsehen, wie es gemacht wird. Einer der Jungs könnte die Äthernarkose durchführen. Schlimmstenfalls setzte ich ihren Schmerzen ein Ziel.«
Doch dann fiel ihm stets ein, daß er es nicht durchführen könne — denn seine Hände waren nicht mehr jung und sicher, und vielleicht war auch sein Mut erlahmt, und so wagte er nicht, das Operationsmesser durch die Seite der geliebten Frau zu ziehen. Er wußte, daß Em das Künftige allein auf sich nehmen mußte.
Auch merkte er binnen kurzem, daß es keine Blinddarmreizung war. Als die Sonne sich wieder nach Süden wandte, wurde Em so schwach, daß sie nicht mehr gehen konnte. Ish durchstöberte die zerfallenen Drugstores und fand Pulver und Tropfen, so daß sie wenigstens nicht allzusehr litt. Wenn sie die Medizin genommen hatte, schlief sie oder lag ruhig und lächelnd da.
Er saß lange Stunden an ihrem Bett, hielt ihre Hand, und dann und wann sprachen sie miteinander.
Wie von je war sie es, die ihn tröstete, obwohl sie Schmerzen hatte und im Sterben lag. Ja, sagte er sich, sie war ihm ebensogut Mutter wie Frau gewesen.
»Grüble nicht«, sagte sie einmal, »über die Kinder, meine ich, und über die Enkelkinder und alle, die nach uns da sind. Ich glaube, sie werden glücklich sein. Wenigstens werden sie so glücklich sein, wie sie es unter anderen Gegebenheiten auch gewesen wären. Gib dich nicht gar zu sehr mit der sogenannten Zivilisation ab. Sie werden schon weiterkommen.«
Hatte sie alles kommen sehen? fragte er sich. Hatte sie gewußt, daß er scheitern würde? Hatte sie gewittert, wie es werden würde? Rührte das daher, daß sie eine Frau war? Oder daher, daß ein wenig andersgeartetes Blut in ihren Adern rann? Und abermals versank er in Nachdenken, was bei Mann und Frau die innere Größe ausmache.
Jetzt sorgte Josey für den Haushalt und pflegte die Mutter. Josey selbst war Mutter, hochgewachsen, vollbrüstig, mit leichter Anmut einherschreitend. Von allen sah sie Em am ähnlichsten.
Auch die andern traten an das Bett — die hochgewachsenen Söhne und die starken Töchter und die Enkelkinder. Die ältesten Enkelsöhne waren schon groß, und an den Körpern der Enkeltöchter zeigte sich die Fülle ihrer Weiblichkeit.
Indem er seine Blicke auf ihnen ruhen ließ, als sie an dem Krankenbett vorübergingen, erkannte Ish, daß Em recht hatte. »Sie werden schon weiterkommen!« dachte er. »Die Schlichtesten und Einfältigsten sind zugleich die Stärksten. Sie werden schon weiterkommen!«
Schließlich saß er eines Tages wieder da und hielt ihre Hand. Sie war sehr schwach, und plötzlich spürte er die Nähe eines düsteren Dritten. Sie sprach nicht mehr, und nur einmal fühlte er, daß ihre Finger in seiner Hand leise zitterten.
»O Mutter von Nationen!« dachte er. »Deine Söhne sollen dich preisen, und deine Töchter sollen dich die Gesegnete nennen!«
Dann war dort, wo drei gewesen waren, nur noch einer; denn der Tod war hinweggegangen, und sie ebenfalls. Er saß gebeugt da, und seine Augen waren tränenlos. Auch das war nun zu Ende. Sie würde begraben werden, die Mutter von Nationen, schlicht und ohne Gepränge; denn so war es bei ihnen Brauch. Und wie es von Anbeginn gewesen war, seit die Liebe und mit ihr der Schmerz in die Welt kamen, saß er bei seiner Toten. Und er wußte, daß die Größe von ihnen gegangen war.
Und nach wie vor flossen die Jahre hin, und die Sonne wandelte von Norden, von den Bergen, nach Süden, nach dem Goldenen Tor, und wieder zurück. Immer mehr Jahreszahlen wurden in die Felsplatte gemeißelt.
Eines Frühlingsmorgens starb unerwartet Molly; sie glaubten, es sei ein Herzschlag gewesen. Im gleichen Jahre wuchs ein großer Tumor in Jean — er wuchs schnell. Niemand war da, der wußte, wie man ihr hätte helfen können; und als sie durch eigene Hand gestorben war, fand sich niemand, der sie getadelt hätte.
»Wir gehen dahin«, dachte Ish, »wir gehen dahin. Wir Amerikaner sind alt geworden und fallen ab wie Herbstblätter.« So war er denn bisweilen traurig. Doch wenn er im Hügelgelände spazierenging, sah er viele Kinder eifrig beim Spiel, und junge Menschen tauschten lachende Zurufe, und Mütter nährten ihre Babys — es herrschte wenig Trübsal und viel Fröhlichkeit.
Eines Tages kam Ezra zu ihm und sagte: »Du solltest dir eine andere Frau nehmen.« Ish schaute ihn mit fragenden Augen an. »Nein«, sagte Ezra, »ich bin zu alt. Du bist jünger. Da ist eine junge Frau unter den ›Andern‹ und kein Mann, der sie heiraten könnte. Abgesehen von Greisen ist es nicht gut, wenn man allein ist. Und wir müßten noch mehr Kinder haben.«
Er liebte sie nicht, aber er nahm sie. Sie tröstete ihn in den langen Nächten; denn er war noch ein Mann und bei voller Kraft. Sie gebar ihm Kinder, obwohl jene Kinder ihm immer ein bißchen fremd vorkamen — kaum die seinen, da sie nicht zugleich von Em stammten.
Immer mehr Jahreszahlen wurden in die Felsplatte gemeißelt. Außer Ish und Ezra waren jetzt alle Amerikaner tot, und Ezra war ein ausgedörrtes, eingeschrumpftes Männlein, das hustete und immer magerer wurde. Ish selbst hatte jetzt ganz graues Haar. Obwohl er nicht dick war, trat sein Bauch hervor, und seine Beine wurden dünn, wie es bei alten Leuten geschieht. Die Hüfte, in die vor vielen, vielen Jahren der Berglöwe seine Krallen geschlagen hatte, schmerzte ihn; so ging er nur selten aus. Und doch gebar seine junge Frau ihm im Jahre 42 noch ein Kind. Er nahm an jenem Kinde nur geringen Anteil; denn er hatte jetzt bereits Urenkelkinder.
Als eines Tages das Jahr 43 zu Ende ging, fühlte Ish sich nicht dazu aufgelegt, nach der Felsplatte zu gehen, wo die Jahreszahlen eingemeißelt wurden; und Ezra war dazu zu gebrechlich. So gaben sie es denn auf, die Jahreszahl einzumeißeln und das Jahr zu benennen. Dann und wann sagten die beiden einander, eigentlich müßten sie es tun, oder sie müßten einem der Jüngeren veranlassen, daß er die Zahlen einmeißelte; und bisweilen sprachen gar die Jüngeren und selbst die Kinder davon. Aber wie es mit dergleichen Dingen geht: wenn man sie einmal aufgegeben hat, dann hat man sie für alle Zeit aufgegeben. So wurden die Zahlen nicht eingemeißelt, das Jahr erhielt keinen Namen, das Leben ging weiter, und niemand kümmerte sich groß darum. In der Folgezeit wußte niemand mehr, wie viele Jahre eigentlich hingegangen waren.
Jetzt bekam Ishs junge Frau keine Kinder mehr. Dann kam sie eines Tages mit einem jüngeren Mann zu Ish, und die beiden baten in alter Ehrfurcht, Ish möge die Frau freigeben und sie jenem überlassen.
Da merkte denn Ish, daß er in den letzten Abschnitt seines sonderbaren Lebens eingetreten war. Danach saßen er und Ezra immer häufiger als zwei alte Männer beieinander.
Es war nicht weiter seltsam, daß zwei alte Männer beieinander saßen und plauderten; seltsam war lediglich, daß es außer diesen beiden keine anderen alten Leute gab. Überall war Jugend, wenigstens sozusagen. Es gab Geburten und Todesfälle, aber stets überwogen die Neugeborenen die Gestorbenen, und da alle sich jung fühlten, erscholl viel Gelächter.
Als die Jahre so dahineilten, sprachen die beiden alten Männer: wenn sie am Hügelhang in der Sonne saßen, immer häufiger von dem, was sich vor langer Zeit ereignet hatte. Die beiden wenigstens konnten noch über jene Jahre sprechen; denn den andern erschien deren Bedeutung gering. Einige Jahre hießen gute, andere schlechte; doch das war kein großer Unterschied. So unterhielten sich denn nur die beiden alten Männer über weit zurückliegende Geschehnisse, und gelegentlich stellten sie philosophische Betrachtungen über das Leben an.
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