Jack ergriff den Hammer und schwang ihn in der Rechten. Die drei andern traten ein wenig zurück, und Ish empfand etwas wie eine sonderbare Sorge um den jungen Menschen, auf den der Hammer übergegangen war.
Doch sie schienen jetzt alle erleichtert zu sein, nun die Hammererbschaft geregelt war, und sie quälten Ish nicht mehr.
So blieb er denn ruhig sitzen, als habe er in dieser Welt alles getan, was getan werden mußte, und als habe er seinen Frieden geschlossen. Er lag auf der Brücke im Sterben; das wußte er jetzt. Viele andere, so erinnerte er sich, waren auf dieser Brücke gestorben. Auch er hätte hier schon vor vielen Jahren durch einen nichtigen Autozusammenstoß ums Leben kommen können. Jetzt hatte er sein eigenes Dasein unwiderruflich zu Ende gelebt und lag hier als ein Sterbender. Undeutlich erinnerte er sich einer Zeile, die er in irgendeinem Buche in den Jahren gelesen hatte, da er viele Bücher zu lesen pflegte. »Menschen gehen und kommen …« Aber das klang ohne die ergänzende Hälfte seicht und sinnlos.
Er schaute zu den andern hin, obwohl ihm ein leichter Nebel vor den Augen schwamm und er nicht gut sehen konnte. Er nahm wahr daß die beiden Hunde ruhig dalagen, und daß die vier jungen Menschen, deren einer sich jetzt abgesondert hielt, ihn auf der Brücke im Halbkreis umstanden und beobachteten. Sie waren noch sehr jung, wenigstens im Vergleich zu ihm, und in der Entwicklung der Menschheit waren sie viele Tausende von Jahren jünger als er. Er war der Letzte der Alten; sie waren die ersten der Neuen. Aber ob nun die Neuen die Bahn einschlagen würden, die der Alte eingeschlagen hatte, das wußte er nicht, und er war sich jetzt beinahe sicher, daß er es nicht einmal wünschte, daß alles sich wiederholte. Unvermittelt gedachte er all dessen, worauf die Zivilisation errichtet worden war — Sklaverei, Eroberung, Krieg und Unterdrückung.
Doch jetzt blickte er über die jungen Menschen hinaus auf die Brücke. Nun er bald tot war, fühlte er sich der Brücke inniger verbunden als den Menschen. Auch sie war ein Teil der Zivilisation gewesen.
Zu seiner Überraschung sah er in einiger Entfernung ein Auto stehen, oder das, was von einem Auto noch übrig war. Dann fiel ihm der kleine Zweisitzer ein, der all die Jahre hindurch hier gestanden hatte. Nun war die Farbe fast gänzlich verwittert; nicht nur die Reifen waren platt, sondern auch die Felgen hatten nachgegeben, so daß der ganze Wagen zusammengesackt war. Die oberen Teile waren weiß von Vogelkot. Seltsamerweise, obwohl es etwas völlig Unwichtiges war, konnte er sich noch erinnern, daß der Eigentümer des Wagens James Robson geheißen hatte (und dazwischen war ein E oder ein T oder ein P oder so etwas Ähnliches gewesen), und daß er in Oakland in einer der numerierten Straßen gewohnt hatte.
Doch Ish ließ seinen spähenden Blick nur einen Augenblick auf dem kleinen Zweisitzer ruhen. Dann wandte sein Blick sich nach oben, und er sah die ragenden Türme und die großen Kabel, die sich nach wie vor in vollkommenen Bogen spannten. Dieser Teil der Brücke schien sich in einem guten Zustand zu befinden. Er würde vermutlich noch lange Zeit aufrecht stehen, vielleicht die Lebenszeit vieler Generationen von Menschen hindurch. Die Geländer, die Kabel, die Türme — alles war rostrot. Aber er wußte, daß der Rost nur die Oberfläche bedeckte. Die Turmspitzen dagegen waren nicht rot, sondern schimmerten weiß von den Exkrementen vieler Generationen von Seemöwen.
Doch obwohl die Brücke noch viele Jahre durchhalten würde, fraß der Rost tiefer und tiefer. Ein Erdbeben würde die Fundamente erschüttern, und an einem Sturmtage würde eines der Tragkabel reißen. Wie die Menschen, so würden auch des Menschen Schöpfungen nicht ewig dauern.
Für eine Sekunde schloß er die Augen und stellte sich den Kranz der Berge rings um die Bucht vor; denn er konnte den Kopf nicht mehr drehen, um sie wirklich zu sehen. Ihre Gestalten hatten sich seit der Zerstörung der Zivilisation nicht verändert; gemessen an menschlicher Zeit würden sie sich auch nicht verändern. Was die Meeresbucht und die Berge betraf, so starb er in der gleichen Welt, in die er hineingeboren war.
Als er die Augen aufschlug, konnte er wirklich sehen; er erblickte zwei gewölbte Erhebungen über dem Kamm der Bergkette. »Die beiden Brüste« waren sie vormals genannt worden, und der Anblick ließ ihn an Em denken und, in noch fernerer Vergangenheit, an seine Mutter. Die Erde und Em und die Mutter glitten in seinem sterbenden Hirn ineinander und wurden eins, und er war glücklich, daß er heimkehren durfte.
»Nein«, dachte er nach einer Weile, »ich muß sterben, wie ich gelebt habe, durch das Licht meines eigenen Geistes, durch das Licht, wie es auch beschaffen sein möge, das er mir spendet. Vielleicht haben jene beiden Berge wirklich die Form von Brüsten; doch sie sind nicht wie Em oder wie meine Mutter. Sie empfangen mich, sie empfangen meinen Leib — aber lieben können sie mich nicht. Sie kümmern mich nicht. Überdies habe ich die Entwicklung der Erde studiert und ich weiß, daß auch die Berge sich immerfort verändern, wenngleich die Menschen sie ewig nennen.«
Doch als ein müder, sterbender alter Mann brauchte er etwas, worauf er den Blick richten konnte und von dem er glaubte, daß es unwandelbar sei. Die Kälte war ihm jetzt bis hinauf in die Hüfte gestiegen, und seine Finger waren starr und empfindungslos. Das Augenlicht schwand ihm.
Er richtete den Blick nach den fernen Bergen hin. Er hatte sich große Mühe gegeben. Er hatte gekämpft. Er hatte Ausschau in die Vergangenheit und in die Zukunft gehalten. Was lag daran? Was hatte er vollbracht?
Jetzt war es sicherlich bedeutungslos. Er würde ausruhen; er würde zu den Bergen zurückkehren. Und sie, wenigstens verglichen mit dem Hinschwinden der Menschengeschlechter, blieben unverändert. Und wenn die Form jener Berge an die Form von Frauenbrüsten erinnerte, so hatte vielleicht auch das seinen Sinn und war tröstlich.
Dann blickte er, obwohl er kaum noch etwas erkennen konnte, wiederum auf die jungen. Menschen. »Sie werden mich der Erde übergeben«, dachte er. »Aber ich übergebe sie gleichfalls der Erde. Denn nur aus ihr und durch sie lebt der Mensch. Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt ewiglich!«
Leben ohne Ende
Utopischer Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE-BUCH NR. 3071/72 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe: EARTH ABIDES
Deutsche Übersetzung von Ernst Sander
Die Originalausgabe ist erschienen bei Victor Gollancz, Ltd., London
Copyright © 1966 by George R. Stewart
Printed in Germany 1966
Umschlag: Atelier Heinrichs, München
Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg