Schließlich betrachtete Ish die Gesichter der jungen Menschen und nahm wahr, daß sie ganz anders als die Gesichter der Menschen vergangener Zeiten waren. Diese Gesichter waren jung, aber sie waren auch ruhig und voller Gleichmut, und es zeigten sich darin kaum Spuren von Überanstrengung, Grübelei und Furcht.
»Seht!« sagte der eine und nickte dorthin, wo Ish saß. »Seht — jetzt geht es ihm besser. Er hält Umschau.« Ish hörte, daß die Stimme freundlich klang, und er empfand eine große Liebe zu dem jungen Menschen, von dem er kurz zuvor noch gefürchtet hatte, gerade er würde der erste sein, der ihn kniffe.
Sonderbar war auch, wie Ish jetzt dachte, daß nach all den Jahren die jungen Menschen nach wie vor eine Sprache redeten, die die Menschen ehedem als Englisch bezeichnet hatten.
Doch als er genauer zuhörte, merkte er, daß auch die Sprache sich verändert hatte. Als der junge Mensch das Wort »Seht!« sagte, da klang es nicht ganz so, wie es eigentlich hätte klingen müssen.
Jetzt wehte etwas Rauch zwischen die Felsen, so daß sie alle husten mußten. Draußen prasselten laut die Flammen; eine Baumgruppe mußte brennen, oder ein nahegelegenes Haus. Die Hunde winselten leise. Aber die Luft blieb ziemlich kühl, und so hatte Ish keine Furcht.
Er fragte sich, was mit den anderen geworden sein mochte. Der »Stamm« mußte jetzt aus mehreren hundert Menschen bestehen, und aus dem Gleichmut der jungen Menschen konnte er schließen, daß sich kein großes Unglück ereignet hatte. Wahrscheinlich, so dachte er, waren die anderen bei den ersten bedrohlichen Anzeichen der Feuersbrunst geflohen, und vielleicht war Jack erst im allerletzten Augenblick der alte Mann eingefallen — der zugleich ein Gott war —, der allein in dem Hause schlief.
Ja, jetzt war es leichter, einfach dazusitzen, Umschau zu halten und nachzudenken, ohne sich mit Problemen herumzuschlagen. So betrachtete er denn nochmals die Gesichter.
Jetzt spielte einer der jungen Menschen mit einem Hunde. Er streckte die Hand aus und zog sie dann schnell wieder zurück, und der Hund schnappte spielerisch zu und knurrte. Es war, als stünden der Hund und der junge Mensch auf einer Stufe, und beide schienen glücklich. Einer der anderen schnitzte an einem Stück Holz herum. Das scharfe Messer glitt tief in das weiße Holz, und unter Ishs Augen bildete sich darin eine Gestalt heraus. Ish lächelte still vor sich hin, denn er sah, daß die Gestalt breite Hüften und üppige Brüste hatte, und er meinte, die Jugend sei nach wie vor die gleiche. Dabei kannte er nicht einmal ihre Namen, ausgenommen den Jacks; aber sie mußten samt und sonders seine Enkel oder Urenkel sein. Hier saßen sie nun in der höhlenartigen Kluft zwischen zwei hohen Felsen, spielten mit einem Hunde oder schnitzten Figürchen, während draußen das Feuer prasselte. Die Zivilisation war vor vielen Jahren untergegangen; jetzt stand die letzte der Städte ringsum sicher in Flammen, und dennoch waren die jungen Menschen glücklich.
War alles zum Besten gediehen? Aus der Höhle kommen wir; in die Höhle gehen wir! Wenn jener andere gelebt, wenn es andere seinesgleichen gegeben hätte, so würde vielleicht alles ganz anders sein. Wiederum mußte er an Joey denken — an Joey! Aber ob dann alles besser gewesen wäre? Plötzlich wünschte er, noch lange Zeit zu leben — weitere hundert Jahre, und dann noch einmal hundert. Sein Leben lang hatte er die Entwicklung der Menschen und der Erde beobachtet, und er wünschte, er könnte das auch in Zukunft tun. Das nächste Jahrhundert und das nächste Jahrtausend würden sehr interessant sein.
Wieder lebt in jenen Tagen jeder kleine Stamm aus sich und für sich und geht seine eigenen Wege, und bald sind sie verschiedenartiger als in den ersten Tagen der Menschheit, gemäß der Beschaffenheit der Überlebenden und der Wohnstätten …
Die einen leben in steter Furcht vor der Außenwelt und wagen kaum, Wasser zu lassen, ohne dabei zu beten. Sie sind geschickt im Umgang mit Booten auf den von den Gezeiten ausgewaschenen Kanälen. Sie fangen Fische und holen sich Muscheln als Nahrungsmittel; auch ernten sie die Samen wilder Gräser …
Hier hausen welche mit dunklerer Hautfarbe; sie sprechen eine andere Sprache und beten eine dunkelhäutige Mutter und deren Kind an. Sie halten Pferde und Truthühner und bauen in der Flußniederung Mais an. Sie fangen in Schlingen Kaninchen; aber den Bogen haben sie nicht …
Die hier sind noch dunkler von Hautfarbe. Sie sprechen Englisch, können aber kein »r« aussprechen, und ihre Redeweise ist breit und plump. Sie halten Schweine und Hühner und bauen Mais an. Auch Baumwolle bauen sie an, aber sie werten sie nicht aus, außer daß sie ein paar Flocken ihrem Gotte opfern, weil sie von früher wissen, daß er Macht hat. Ihr Gott hat die Gestalt eines Alligators, und sie nennen ihn Olzaytn …
Die hier sind Bogenschützen, und zwar geschickte, und ihre Jagdhunde sind so dressiert, daß sie Laut geben. Sie versammeln sich gern und führen Streitgespräche. Ihre Weiber schreiten stolz einher. Das Symbol ihres Gottes ist ein Hammer; aber sie zollen ihm nicht eben große Ehrfurcht …
Viele andere gibt es noch, und alle sind verschieden geartet. In der Folgezeit, nach diesen Anfangsjahren, werden die Stämme wachsen und einander begegnen, und es werden sich in leiblicher und geistiger Beziehung fruchtbare Kreuzungen ergeben. Dann ergeben sich zweifellos blindlings und ohne menschliche Planung neue Zivilisationen und neue Kriege.
Nach einer Weile wurden sie hungrig und sehr durstig. Da das Feuer inzwischen stellenweise erloschen war, wagte sich einer der jungen Menschen hinaus. Als er wiederkam, brachte er einen alten Aluminium-Teekessel mit. Ish erkannte darin denjenigen, der immer bei der nahen Quelle gestanden hatte. Der junge Mensch reichte ihn zunächst Ish, und Ish nahm einen langen Schluck.
Danach zog der gleiche junge Mensch eine flache Blechdose aus der Hosentasche. Das Etikett hatte sich schon vor langer Zeit abgelöst, und das Metall war ziemlich verrostet. Die drei beredeten ausgiebig, ob sie das, was in der Dose war, essen sollten. Einer von ihnen behauptete, es seien schon Menschen gestorben, die etwas aus einer Dose gegessen hatten. Sie redeten kräftig hin und her, aber sie fragten Ish nicht um Rat. Wenn auf der Dose das Bild eines Fisches oder einer Frucht gewesen wäre, so hätte man wissen können, welche Art Nahrung darin war. Aber selbst wenn man es wußte, konnte der Inhalt einer rostigen Dose gefährlich sein, wenn nämlich der Rost das Blech durchdrang, dann war ihr Inhalt verdorben.
Ish, der sich an dem Hinundhergerede nicht beteiligte, hätte ihnen sagen können, das Nächstliegende sei, die Dose einfach aufzumachen und sich davon zu überzeugen, in welchem Zustand der Inhalt sich befand. Aber da er ein sehr alter Mann war und über einige Lebensweisheit verfügte, merkte er, daß sie wohl nur so viel redeten, weil es ihnen Spaß machte, und weil sie möglicherweise einer Entscheidung ausweichen wollten.
Nach einiger Zeit öffneten sie indessen mit einem der Messer die Dose, und es war etwas Rötlich-Braunes darin. Ish war sich klar darüber, daß es sich um eine Dose Lachs handelte. Prüfend beroch er sie und entschied dann, sie sei noch gut. Sie sahen sich auch die Innenseite der Dose genau an und sahen, daß der Rost noch nicht hindurchgedrungen war. So teilten sie sich denn den Lachs und gaben Ish davon ab.
Ish hatte seit langer Zeit keinen Dosenlachs gesehen oder gegessen. Das Fleisch sah viel dunkler aus, als es eigentlich hätte aussehen dürfen, und es duftete auch nicht würzig. Doch er meinte, der Geschmack oder vielmehr das Fehlen eines eigentlichen Geschmacks rühre daher, daß infolge seines hohen Alters sein Geschmackssinn abgestumpft sei. Wäre ihm das Sprechen nicht so schwergefallen, so hätte er den jungen Menschen eine Vorlesung über all die Wunder gehalten, die hatten vollbracht werden müssen, bis sie imstande waren, dieses bißchen Lachs zu essen. Der Fisch war wohl vor vielen Jahren gefangen worden, wahrscheinlich an den Küsten von Alaska, tausend Meilen und mehr von dem Orte entfernt, wo sie ihn jetzt verzehrten. Aber selbst wenn ihm das Sprechen nicht so schwergefallen wäre, hätte er, wie ihm bewußt wurde, den jungen Menschen kaum verständlich machen können, worüber er eigentlich spräche. Vielleicht hatten sie den Ozean gesehen, weil er nicht allzuweit von ihrer Wohnstätte entfernt lag; aber sie würden keine Vorstellung von einem über dem Ozean segelnden großen Schiff gehabt und nicht gewußt haben, was er meinte, wenn er von tausend Meilen gesprochen hätte.
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