Joseph Roth - Die Flucht ohne Ende

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Franz Tunda, Oberleutnant der österreichischen Armee, flieht aus der russischer Gefangenschaft und wird dem Heimweg nach Wien in den russischen Bürgerkrieg verwickelt. Er heiratet, verlässt seine Frau aber, um nach Paris auszuwandern, wo er wirtschaftlich an den Rande des Ruins gelangt und feststellen muss, dass er nirgendwo zu Hause ist, ständig auf der Flucht, ein Reisender, der keine Heimat findet.

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Die Flucht ohne Ende

Die Flucht ohne Ende

© Joseph Roth 1927

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildmaterial von StockSnap / Pixabay

© Lunata Berlin 2019

Inhalt

Vorwort Vorwort Im folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und Gesinnungsgenossen Franz Tunda. Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen Erzählungen. Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu »dichten«. Das wichtigste ist das Beobachtete. – Paris, im März 1927 Joseph Roth

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Über den Autor

Vorwort

Im folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und Gesinnungsgenossen Franz Tunda.

Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen Erzählungen.

Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu »dichten«. Das wichtigste ist das Beobachtete. –

Paris, im März 1927

Joseph Roth

1

Der Oberleutnant der österreichischen Armee Franz Tunda geriet im August des Jahres 1916 in russische Kriegsgefangenschaft. Er kam in ein Lager, einige Werst nordöstlich von Irkutsk. Es gelang ihm, mit Hilfe eines sibirischen Polen zu fliehen. Auf dem entfernten, einsamen und traurigen Gehöft des Polen, am Rande der Taiga, blieb der Offizier bis zum Frühling 1919.

Waldläufer kehrten bei dem Polen ein, Bärenjäger und Pelzhändler. Tunda hatte keine Verfolgung zu fürchten. Niemand kannte ihn. Er war der Sohn eines österreichischen Majors und einer polnischen Jüdin, in einer kleinen Stadt Galiziens, dem Garnisonsort seines Vaters, geboren. Er sprach polnisch, er hatte in einem galizischen Regiment gedient. Es fiel ihm leicht, sich für einen jüngeren Bruder des Polen auszugeben. Der Pole hieß Baranowicz. Tunda nannte sich ebenso.

Er bekam ein falsches Dokument auf den Namen Baranowicz, war nunmehr in Lodz geboren, im Jahre 1917 wegen eines unheilbaren und ansteckenden Augenleidens aus dem russischen Heer entlassen, von Beruf Pelzhändler, wohnhaft in Werchni Udinsk.

Der Pole zählte seine Worte wie Perlen, ein schwarzer Bart verpflichtete ihn zur Schweigsamkeit. Vor dreißig Jahren war er, ein Strafgefangener, nach Sibirien gekommen. Später blieb er freiwillig. Er wurde Mitarbeiter einer wissenschaftlichen Expedition zur Erforschung der Taiga, wanderte fünf Jahre durch die Wälder, heiratete dann eine Chinesin, ging zum Buddhismus über, blieb in einem chinesischen Dorf als Arzt und Kräuterkenner, bekam zwei Kinder, verlor beide und die Frau durch die Pest, ging wieder in die Wälder, lebte von Jagd und Pelzhandel, lernte die Spuren der Tiger im dichtesten Gras erkennen, die Vorzeichen des Sturms an dem furchtsamen Flug der Vögel, wußte Hagel- von Schnee- und Schnee- von Regenwolken zu unterscheiden, kannte die Gebräuche der Waldgänger, der Räuber und der harmlosen Wanderer, liebte seine zwei Hunde wie Brüder und verehrte die Schlangen und die Tiger. Er ging freiwillig in den Krieg, schien aber seinen Kameraden und den Offizieren schon in der Kaserne so unheimlich, daß sie ihn als einen Geisteskranken wieder in die Wälder entließen. Jedes Jahr, im März, kam er in die Stadt. Er tauschte Hörner, Felle, Geweihe gegen Munition, Tee, Tabak und Schnaps ein. Er nahm einige Zeitungen mit, um sich auf dem laufenden zu halten, glaubte aber weder den Nachrichten noch den Artikeln; selbst an den Inseraten zweifelte er. Seit Jahren ging er in ein bestimmtes Bordell, zu einer Rothaarigen, Jekaterina Pawlowna hieß sie. Wenn ein anderer bei dem Mädchen war, wartete Baranowicz, ein geduldiger Liebhaber. Das Mädchen wurde alt, es färbte seine silbernen Haare, verlor einen Zahn nach dem andern und sogar das falsche Gebiß. Jedes Jahr brauchte Baranowicz weniger zu warten, schließlich war er der einzige, der zu Jekaterina kam. Sie begann ihn zu lieben, das ganze Jahr brannte ihre Sehnsucht, die späte Sehnsucht einer späten Braut. Jedes Jahr wurde ihre Zärtlichkeit stärker, ihre Leidenschaft heißer, sie war eine Greisin, mit welkem Fleisch genoß sie die erste Liebe ihres Lebens. Baranowicz brachte ihr jedes Jahr die gleichen chinesischen Ketten und die kleinen Flöten, die er selbst schnitzte und auf denen er die Stimmen der Vögel nachahmte.

Im Februar 1918 verlor Baranowicz den Daumen der linken Hand, als er unvorsichtig Holz sägte. Die Heilung dauerte sechs Wochen, im April sollten die Jäger aus Wladiwostok kommen, er konnte in diesem Jahr nicht in die Stadt. Vergeblich wartete Jekaterina. Baranowicz schrieb ihr durch einen Jäger und tröstete sie. Statt der chinesischen Perlen schickte er ihr einen Zobel und eine Schlangenhaut und ein Bärenfell als Bettvorleger. So kam es, daß Tunda in diesem wichtigsten aller Jahre keine Zeitungen las. Erst im Frühling 1919 hörte er von dem heimkehrenden Baranowicz, daß der Krieg beendet war.

Es war an einem Freitag, Tunda wusch das Eßgeschirr in der Küche, Baranowicz trat in die Tür, man hörte das Bellen der Hunde. Eis klirrte an seinem schwarzen Bart, auf dem Fensterbrett saß ein Rabe.

»Es ist Friede, es ist Revolution!«, sagte Baranowicz.

In diesem Augenblick wurde es still in der Küche. Die Uhr im Nebenzimmer schlug drei starke Schläge. Franz Tunda legte die Teller sorgfältig und leise auf die Bank. Er wollte die Stille nicht stören, wahrscheinlich hatte er auch Angst, die Teller würden zerbrechen. Seine Hände zitterten.

»Den ganzen Weg«, sagte Baranowicz, »habe ich es mir überlegt, ob ich es dir sagen soll. Schließlich tut es mir leid, daß du nach Hause gehn wirst. Wir werden uns wahrscheinlich nicht wiedersehn, und schreiben wirst du mir auch nicht.«

»Ich werde dich nicht vergessen«, sagte Tunda.

»Versprich nichts!«, sagte Baranowicz.

Das war der Abschied.

2

Tunda wollte nach der Ukraine gelangen, von Shmerinka, wo er in Gefangenschaft geraten war, nach der österreichischen Grenzstation Podwoloczyska und dann nach Wien. Er hatte keinen bestimmten Plan, der Weg lag unsicher vor ihm, lauter Windungen. Er wußte, daß es lange dauern würde. Er hatte nur den einen Vorsatz: weder den weißen noch den roten Truppen nahe zu kommen und sich um die Revolution nicht zu kümmern. Die österreichisch-ungarische Monarchie war zerfallen. Er hatte keine Heimat mehr. Sein Vater war als Oberst gestorben, seine Mutter schon lange tot. Ein Bruder war Kapellmeister in einer mittelgroßen deutschen Stadt.

In Wien erwartete ihn seine Braut, Tochter des Bleistiftfabrikanten Hartmann. Von ihr wußte der Oberleutnant nichts mehr, als daß sie schön, klug, reich und blond war. Diese vier Eigenschaften hatten sie befähigt, seine Braut zu werden.

Sie schickte ihm Briefe und Leberpasteten ins Feld, manchmal eine gepreßte Blume aus Heiligenkreuz. Er schrieb ihr jede Woche auf dunkelblauem Feldpostpapier mit angefeuchtetem Tintenstift kurze Briefe, knappe Situationsberichte, Meldungen.

Seitdem er aus dem Lager geflohen war, hatte er nichts von ihr gehört.

Daß sie ihm treu war und auf ihn wartete, daran zweifelte er nicht.

Daß sie auf ihn wartete, bis zu seiner Ankunft, daran zweifelte er nicht.

Daß sie aber aufhören würde, ihn zu lieben, wenn er einmal da war und vor ihr stand, schien ihm ebenso gewiß. Denn als sie sich verlobt hatten, war er ein Offizier gewesen. Die große Trauer der Welt verschönte ihn damals, die Nähe des Todes vergrößerte ihn damals, die Weihe eines Begrabenen lag um den Lebendigen, das Kreuz auf der Brust gemahnte an das Kreuz auf einem Hügel. Rechnete man auf ein glückliches Ende, so warteten nach dem triumphalen Marsch der siegreichen Truppen über die Ringstraße der goldene Kragen des Majors, die Stabsschule und schließlich der Generalsrang, alles umweht von dem weichen Trommelklang des Radetzkymarsches.

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