Die Rebellion
Die Rebellion
© Joseph Roth 1924
Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildmaterial von Gerhard Bögner / Pixabay
© Lunata Berlin 2019
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Über den Autor
Die Baracken des Kriegsspitals Numero XXIV lagen am Rande der Stadt. Von der Endstation der Straßenbahn bis zum Krankenhaus hätte ein Gesunder eine halbe Stunde rüstig wandern müssen. Die Straßenbahn führte in die Welt, in die große Stadt, in das Leben. Aber die Insassen des Kriegsspitals Numero XXIV konnten die Endstation der Straßenbahn nicht erreichen.
Sie waren blind oder lahm. Sie hinkten. Sie hatten ein zerschossenes Rückgrat. Sie erwarteten eine Amputation oder waren bereits amputiert. Weit hinter ihnen lag der Krieg. Vergessen hatten sie die Abrichtung; den Feldwebel; den Herrn Hauptmann; die Marschkompanie; den Feldprediger; Kaisers Geburtstag; die Menage; den Schützengraben; den Sturm. Ihr Frieden mit dem Feind war besiegelt. Sie rüsteten schon zu einem neuen Krieg; gegen die Schmerzen; gegen die Prothesen; gegen die lahmen Gliedmaßen; gegen die krummen Rücken; gegen die Nächte ohne Schlaf; und gegen die Gesunden.
Nur Andreas Pum war mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Er hatte ein Bein verloren und eine Auszeichnung bekommen. Viele besaßen keine Auszeichnung, obwohl sie mehr als nur ein Bein verloren hatten. Sie waren arm- und beinlos. Oder sie mußten immer im Bett liegen, weil ihr Rückenmark kaputt war. Andreas Pum freute sich, wenn er die anderen leiden sah.
Er glaubte an einen gerechten Gott. Dieser verteilte Rückenmarkschüsse, Amputationen, aber auch Auszeichnungen nach Verdienst. Bedachte man es recht, so war der Verlust eines Beines nicht sehr schlimm und das Glück, eine Auszeichnung erhalten zu haben, ein großes. Ein Invalider durfte auf die Achtung der Welt rechnen. Ein ausgezeichneter Invalider auf die der Regierung.
Die Regierung ist etwas, das über den Menschen liegt, wie der Himmel über der Erde. Was von ihr kommt, kann gut oder böse sein, aber immer ist es groß und übermächtig, unerforscht und unerforschbar, wenn auch manchmal für gewöhnliche Menschen verständlich.
Es gibt Kameraden, die auf die Regierung schimpfen. Ihrer Meinung nach geschieht ihnen immer Unrecht. Als ob der Krieg nicht eine Notwendigkeit wäre! Als ob seine Folgen nicht selbstverständlich Schmerzen, Amputationen, Hunger und Not sein müßten! Was wollten sie? Sie hatten keinen Gott, keinen Kaiser, kein Vaterland. Sie waren wohl Heiden. »Heiden« ist der beste Ausdruck für Leute, die sich gegen alles wehren, was von der Regierung kommt.
Es war ein warmer Sonntag im April, Andreas Pum saß auf einer der rohgezimmerten weißen Holzbänke, die mitten im Rasen vor den Baracken des Spitals aufgestellt waren. Fast auf jeder Bank saßen zwei und drei Rekonvaleszente zusammen und sprachen. Nur Andreas saß allein und freute sich über die Bezeichnung, die er für seine Kameraden gefunden hatte.
Sie waren Heiden, wie zum Beispiel Leute, die wegen falscher Eide und wegen Diebstahls, Totschlags, Mordes oder gar Raubmordes im Zuchthaus saßen. Warum stahlen die Leute, töteten, raubten, desertierten sie? Weil sie Heiden waren.
Wenn jemand in diesem Augenblick Andreas gefragt hätte, was die Heiden sind, so hätte er geantwortet: zum Beispiel Menschen, die im Gefängnis sitzen, oder auch jene, die man zufällig noch nicht erwischt hat. Andreas Pum war sehr froh, daß ihm die »Heiden« eingefallen waren. Das Wort genügte ihm, es befriedigte seine kreisenden Fragen und gab Antwort auf viele Rätsel. Es enthob ihn der Verpflichtung, weiter nachdenken und sich mit der Erforschung der anderen abquälen zu müssen. Andreas freute sich über das Wort. Zugleich verlieh es ihm das Gefühl der Überlegenheit über die Kameraden, die auf den Bänken saßen und schwatzten. Sie hatten zum Teil schwerere Wunden und keine Auszeichnungen. Geschah ihnen nicht recht? Weshalb schimpften sie? Warum waren sie unzufrieden? Fürchteten sie um ihre Zukunft? Wenn sie weiter in ihrem Trotz verharrten, dann hatten sie wohl recht, um ihre Zukunft bang zu sein. Sie schaufelten sich ja selbst ihre Gräber! Wie sollte sich die Regierung ihrer Feinde annehmen? Ihn, Andreas Pum dagegen, wird sie schon versorgen.
Und während die Sonne schnell und sicher am wolkenlosen Himmel ihrem Höhepunkt zustrebte und immer glühender und fast schon sommerlich wurde, dachte Andreas Pum an die nächsten Jahre seines Lebens. Die Regierung hat ihm einen kleinen Briefmarkenverschleiß übergeben oder eine Wächterstelle in einem schattigen Park, oder in einem kühlen Museum. Da sitzt er nun mit seinem Kreuz auf der Brust, Soldaten grüßen ihn, ein etwa vorbeigehender General klopft ihm auf die Schulter, und die Kinder fürchten sich vor ihm. Er aber tut ihnen nichts zuleide, er gibt nur acht, daß sie nicht auf den Rasen springen. Oder die Leute, die ins Museum kommen, kaufen bei ihm Kataloge und Künstlerkarten und betrachten ihn dennoch nicht als einen gewöhnlichen Händler, sondern als eine Amtsperson. Vielleicht findet sich auch noch eine Witwe, kinderlos oder mit einem Kind, oder ein älteres Mädchen. Ein gutversorgter Invalider mit einer Pension ist keine schlechte Partie, und Männer sind nach dem Krieg sehr gesucht.
Der helle Klang einer Glocke hüpfte über den Rasen vor den Baracken und verkündete das Mittagessen. Die Invaliden erhoben sich schwer und wankten, aufeinander gestützt, der großen, langgestreckten hölzernen Speisebaracke entgegen. Andreas hob mit eiliger Beflissenheit seine heruntergefallene Krücke auf und humpelte munter hinter den Kameraden, um sie zu überholen. Er glaubte nicht recht an ihre Schmerzen. Auch er mußte leiden. Und dennoch – seht – wie flink er sein kann, wenn ihn die Glocke ruft!
Selbstverständlich überholt er die Lahmen, die Blinden, die Männer mit den krummen Wirbelsäulen, deren Rücken so gebückt ist, daß er einen parallelen Strich zur Erde bildet, auf der sie gehen. Hinter Andreas Pum rufen sie her, aber er wird sie nicht hören.
Es gab wieder Hafergrütze, wie jeden Sonntag. Die Kranken wiederholten, was sie alle Sonntage zu sagen gewohnt waren: Hafergrütze ist langweilig. Andreas aber fand sie gar nicht langweilig. Er hob den Teller an die Lippen und trank den Rest, nach dem er ein paarmal mit dem Löffel vergeblich gefischt hatte. Die anderen sahen ihm zu und folgten zaghaft seinem Beispiel. Er hielt den Teller lange vor dem Mund und schielte über den Rand nach den Kameraden. Er stellte fest, daß ihnen die Suppe schmeckte und daß ihre Reden Prahlerei und Übermut gewesen waren. Sie sind Heiden! – frohlockte Andreas und setzte den Teller ab.
Das Dörrgemüse, das die anderen »Drahtverhau« nannten, schmeckte ihm weniger. Dennoch leerte er den Teller. Er hatte dann das befriedigende Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben, wie wenn er ein rostiges Gewehr blank geputzt hätte. Er bedauerte, daß kein Unteroffizier kam, um die Geschirre zu kontrollieren. Sein Teller war sauber, wie sein Gewissen. Ein Sonnenstrahl fiel auf das Porzellan, und es glänzte. Das nahm sich aus wie ein offizielles Lob des Himmels.
Am Nachmittag kam die längst angekündigte Prinzessin Mathilde in einer Krankenschwestertracht. Andreas, der in seiner Abteilung das Zimmerkommando führte, stand stramm an der Tür. Die Prinzessin gab ihm die Hand, und er verneigte sich, wider Willen, obwohl er sich vorgenommen hatte, stramm zu bleiben. Seine Krücke fiel zu Boden, die Begleiterin der Prinzessin Mathilde bückte sich und hob sie auf.
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