Franz Fühmann hat sich wie kein anderer Schriftsteller der wohl brisantesten literarischen Frage nach 1945 gestellt: Wie konnte ich ein Bewunderer Hitlers, wie konnte ich ein Nazi werden? Mit poetischer Genauigkeit durchforschte er die politischen Prägungen, denen er während seiner Kindheit und Schulzeit unter Hitler ausgesetzt war, um sie endlich abstreifen und hinter sich lassen zu können. In immer neuen Anläufen erkämpfte er sich damit seinen Weg zu einer unideologischen Denkhaltung und wurde zu einem profilierten Kritiker des DDR-Regimes. In seiner kompakten Biografie beschreibt Uwe Wittstock Fühmanns „Wandlung ohne Ende“ hin zu einem meisterlichen Erzähler und Essayisten. Fühmanns radikale literarische Selbstprüfung gewinnt heute besondere Bedeutung – in einer Zeit, in der politische Extreme wieder einmal die Liberalität unserer Gesellschaft bedrohen.
Uwe Wittstock
Franz Fühmann Wandlung ohne Ende
Eine Biografie
Ausgangspunkte: Eine Kindheit in Böhmen Ausgangspunkte: Eine Kindheit in Böhmen
Die Lyrik: Von den Nachteilen der Naivität Die Lyrik: Von den Nachteilen der Naivität
Frühe Prosa: Die Vergangenheit in Schwarz-Weiß
Späte Prosa: Wandlung ohne Ende
Mythische Stoffe: Abschied vom Märchen
Vor Feuerschlünden:Triumph und Tod
Anmerkungen
Zeittafel
Ausgangspunkte: Eine Kindheit in Böhmen
Franz Fühmann ist im Märchen aufgewachsen. Sein böhmischer Geburtsort Rochlitz, heute Rokytnice nad Jizerou, liegt an einem schmalen Nebenfluss der Iser unweit der damals tschechisch-deutschen, jetzt tschechisch-polnischen Grenze. Schon in seinen Kindertagen war das in eine Talnische des Riesengebirges gedrängte Städtchen keine ländliche, weltentrückte Idylle mehr: Es gab eine kleine Textilfabrik, schäbige Mietshäuser für die Arbeiter und auf den Straßen verkehrten die ersten Autos. Dennoch verschmolzen – wie seine autobiographischen Erzählungen bezeugen – der Ort und die Landschaft für den jungen Franz Fühmann mit dem Reich der Sagen und Legenden zu einem unteilbaren Ganzen. Er lebte nicht nur mit den Märchen, er lebte in ihnen.
Die Geschichten, die ihm zugetragen wurden, die er spielend selbst erfand oder die er verschlang, sobald er lesen konnte, überlagerten seine Wahrnehmungen. Begabt mit einer regen Einbildungskraft, verwandelte sich für ihn die Landschaft Böhmens mit ihren dichten Wäldern und versteckten kleinen Seen, mit ihren unzugänglichen Bergwiesen und abgelegenen Lichtungen in ein geheimnisvolles Land voller phantastischer Geschehnisse: „Ich komme ja aus einer Landschaft her“, erinnerte er sich einmal, „wo die Märchen einfach zu Hause sind. Das ist in so einem Gebirgstal im Riesengebirge, wo man jeden Winter einschneite, wo man sich in jedem Winter aus den Schneemassen herausgraben musste, und wo es Felshöhlen gab und Schluchten und Quellen und Grotten, und da lebte eben Rübezahl, und da gab es eben Gnome und Feen und Gespenster so wie Bäume und Steine. Mit den Märchen bin ich aufgewachsen, mit Grimm und Bechstein und Andersen. Das waren für mich ganz selbstverständliche Realitäten gewesen, ganz unmittelbarer Alltag […].“ 1
Als der erwachsene Fühmann nach über zwei Jahrzehnten Abwesenheit zum ersten Mal wagte, den Ort Rochlitz und seine Umgebung wieder zu besuchen, holte den inzwischen gut vierzigjährigen Schriftsteller die Erinnerung an jene Märchenwelt seiner Kindheit mit Macht ein: „Auf einem Hügelchen unten im Tal ein winziges Wäldchen wie ein verirrter Igel: Der Märchenurwald meiner Kindheit. Dort die tapferste Tat meines Lebens: Allein abends am Hexenhaus vorbei“, notierte er während seiner Stippvisite in der eigenen Vergangenheit. „Der schmutzig-weiße Fabrikleib rechts mit dem schmutzig-roten Helm und der gedrungene schmutzig-weiße Leib der Kirche links mit dem spitzen schmutzig-grauen Dach […] und darüber der Hexenwald und darüber das Grillengeschrei: Genau das ist das Dorf meiner Kindheit […]. Es gab als gesicherten geographischen Besitz nur das alltäglich begangene Tal mit dem Bach und der Straße […] und fern am Horizont die beiden Koppen des beginnenden sagenhaften Rübezahlreiches, alles andere war schwarzer, finsterer, unbetretbarer, grauenvoller Wald, dem ununterscheidbare, hundertfach ineinandergeschachtelte Hänge und Halden entstürzten, Wesen, ungreifbarer als Wassermänner […].“ 2
Mit den letzten Sätzen klingt allerdings auch an, dass es in Fühmanns Kinderreich keineswegs so friedlich und heiter zuging, wie es der Begriff Märchen zunächst anzudeuten scheint. Die Geschichten, die das Bewusstsein des Jungen damals prägten, waren bevölkert von Zwergen und Zauberern, Räubern und Kobolden, Geistern und Dämonen. Nicht so sehr das Happy-End der Märchen mit der am Schluss wieder hergestellten Harmonie der heilen Welt hielt seine Imagination gefangen, sondern die zuvor ausgebreiteten Bilder der Schrecken und der Untaten wirkten nach. Die Natur erschien beseelt, und nur die wenigsten dieser überall versteckten Geschöpfe waren ihm freundlich gesonnen. Er fühlte sich umgeben von den seltsamsten Gefahren, die er wiederum nur durch die seltsamsten Gegenmittel abwehren konnte. So erzählte Fühmann einmal von seinen „grauendurchzuckten, wahnsinnigen Fluchten vor Kreuzottern“. Als Kind glaubte er sich oft von den Schlangen verfolgt und versuchte ihnen in „Zickzacksprüngen“ zu entkommen – „denen konnten sie nämlich nicht folgen, da sie sich ja in den eigenen Schwanz bissen und also gleich Reifen die Hänge herunterrollen ließen“. 3
Nach einer heiteren, unbeschwerten Jugend klingt das nicht. Bezeichnenderweise spricht Fühmann gegen Ende jener Notizen über seine ebenso späte wie kurze Rückkehr nach Rochlitz von einem „siedenden Ausbruch der Angst deiner Kindertage“. 4Ein auf den ersten Blick überraschendes Eingeständnis, wenn man bedenkt, dass Fühmann als der älteste Spross einer wohlhabenden Familie keineswegs in materiell bedrängten Verhältnissen heranwuchs. Vielmehr lebten die Eltern in einem der stattlichsten Häuser des Ortes und pflegten einen gutbürgerlichen Lebensstil: der Vater, Apotheker und Inhaber einer kleinen pharmazeutischen Fabrik, zählte zu den respektierten Honoratioren, er unternahm – zu einer Zeit, als das noch nicht allgemein üblich war – mit Frau und Kindern Urlaubsreisen an den Königssee, nach Salzburg oder an die Adria und konnte es sich leisten, den einzigen Sohn auf das kostspielige Jesuitenkonvikt Kalksburg bei Wien, eine traditionsreiche österreichische Eliteschule, zu schicken.
Doch die Ursachen für Fühmanns Kindheitsängste werden, betrachtet man seine autobiographischen Aufzeichnungen genauer, rasch verständlicher. Es ist kaum zu übersehen, dass die Familie das Bild eines harmonischen Zusammenlebens nur notdürftig und der kleinstädtischen Umwelt zuliebe aufrecht erhielt. Hinter dieser Fassade verbargen sich verheerende Spannungen. Die Eltern hatten sich offenbar weitgehend auseinandergelebt und scheuten nicht davor zurück, in ihrem täglichen Kleinkrieg den Sohn und die jüngere Tochter als Druckmittel zu missbrauchen. Sie bereiteten Fühmann so, wie er einmal mit einem Abstand von rund fünf Jahrzehnten feststellte, eine „Kindheit in der Hölle, über die Vater und Mutter herrschten, unablässig einander zerfleischend, unablässig einander Schmerzen auspressend, unablässig uns Kinder als Schild vor sich tragend“. 5
Vor allem der Vater erscheint in Fühmanns Erzählungen über die eigene Jugend (oder die eines Alter Ego) fast immer als ein unerreichbar ferner, egozentrischer und gefühlskalter Mann, der an die Leistungen seines Sohnes die höchsten Ansprüche stellt.
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